8. November 2019
Witamy w Unii Europejskiej
Nach regnerischer Nacht und nasskaltem Nebelmorgen wird das Wetter untertags etwas besser. Ich radle von Lwiw zu einem kleinen polnischen Grenzübergang bei Przemysl. Tanken muss in der Ukraine günstiger sein als auf der anderen Seite der Grenze. Denn ich passiere viele Tankstellen. Verkehrsmäßig ist es dennoch eher ruhig. Die Kolonnen sehe ich erst danach. Sie warten staustehend auf polnischer Seite. Nur beim Fußgängerübergang herrscht reges Treiben. Ich muss mit meinem Rad deren Weg benutzen. Es ist schon etwas eigen, wenn man durch Gitterschleusen und Drahtkorridore geleitet wird. Oder ich zusehen kann, wie Omas und Opas gefilzt werden, jeder Rucksack und jede Jackentasche geleert wird. Und wahrscheinlich schauen andere dabei auch mit. Denn überall sind Kameras installiert. Mit meinem Rad und den vielen Packtaschen war ich jedenfalls ein Exot in der Warteschlange. Vielleicht waren die vielen Leute auch ein Grund, dass ich nicht alles auspacken musste. Die Beamtin beschränkte sich auf ein tastendes Durchwühlen der Taschen. Ihr „I must do it“ klang fast wie eine Entschuldigung. Jedenfalls waren sie alle freundlich, und dennoch bestimmt in ihrem Tun. Ich habe keine Ahnung, was ihre Schwerpunkte sind. Oder welche Aufgriffe sie da machen. Es ist einfach nur mein Grenzübertritt in die Europäische Union, heute mal auf östlicher Seite erlebt. „Witamy“, google ich am Abend im Hotel. Ist polnisch, und bedeutet Herzlich Willkommen. Und während ich das schreibe, klopft der Regen auf das Fensterbrett. Hmm, der ist mir eigentlich fürs Radeln nicht so willkommen.
9. November 2019
Genialer Tag
Bei moderater Frische im Nebel gestartet klart es bald auf. Zuerst ist es ein Wechselbad. Mit ein paar Höhenmetern bin ich in der Sonne unterwegs. Sobald es wieder in eine Senke hinunter geht, tauche ich in den Nebel ein. Doch die Sonne setzt sich durch, und bleibt den ganzen Tag. Die Straße ist zum Radeln ganz toll. Es geht waldreich kurvig auf und ab, und das bei nur ganz wenig Verkehr und sehr gutem Belag. Sogar Serpentinen sind einige dabei, wie bei richtigen Passstraßen. Es gefällt mir in diesem Teil der Karpatenausläufer sehr. Im Mischwald glänzen die Buchen in der Sonne. Einzelne Ahornbäume zeigen ihre volle Farbenpracht. Bei einer Aussichtsplattform genieße ich den Rundumblick. Fein, denke ich mir, dass es mal nicht nur flach weitergehen wird, wie all die Tage zuvor.
Mittags spricht mich Bartek, ein polnischer Rennradfahrer an, als ich mir gerade eine Jause kaufe. Er war diesen Sommer ebenfalls auf einer großen Tour mit Gepäck unterwegs. Daher interessiert er sich auch für mich und meine Geschichte. Als ich ihm mein Etappenziel für heute nenne, schlägt er mir eine Ersatzroute vor, und begleitet mich. So fahren wir zu zweit plaudernd auf Nebenstraßen durch seine polnische Heimat. Es macht uns beiden Spaß. Die Route ist landschaftlich und zum Radeln Extraklasse. Ich bin ganz überrascht, was wenige Kilometer Entfernung und ein Landeswechsel ausmachen können. Polen erweist sich in dieser östlichen Ecke als feines Radlergebiet. Und dass ich mit einem lokalen Führer gleich ein paar idyllische Winkel zusätzlich entdecken darf, macht den Tag genial.
Weniger genial finde ich den Wetterbericht für den nächsten Tag. Überall ganztägig Regen, egal in welche Himmelsrichtung ich fahren würde. Also wird es ein Pausentag. Soll auch ok sein, an einem Sonntag. Ich werde dann halt mal die Füße hochlagern.
12. November 2019
Nummer 13
Ivonicz-Zrdoj ist ein Kurort. Doch jetzt im November scheint hier wenig Betrieb zu sein. Oder ist es noch zu früh am Morgen? Ich bin nämlich schon um halb 8 Uhr los. Bei ziemlich dichtem Nebel fahre ich die waldigen Hügel hoch. Und ich mache natürlich wieder einen Abstecher ins Feld. Auf der Karte als Verbindungsweg eingetragen erweist sich der Weg nach dem Regentag als Schlammpiste. Der Lehm bleibt immer wieder am Reifen kleben. Ich bin froh, dass es auch Wasserpfützen gibt. Da wird der Reifen wieder etwas sauber. Die größeren Pfützen fahre ich vorsichtig an. Sie haben zwar einen festen Untergrund, doch sind sie auch meist recht tief. Ja, und so brauche ich am Morgen ganz schön Zeit, bis ich die Hauptstraße zur Grenze der Slowakei erreiche. Nach den vielen Kontrollen an den Grenzen zuvor genieße ich den Übergang hier. Einfach durchfahren. Keine Absperrungen, keine Gitter, keine Beamten, keine Gewehre, keine Hunde. Ich kann es kaum glauben. Die Grenze ist wirklich frei passierbar.
Mittags kehre ich in einer kleinen Raststätte ein. Ich esse Kartoffeln mit Krautsalat. Und weil es mir schmeckt, gleich 2 Portionen. Davor bin ich auf der Straße ganz gut vorangekommen. Ich schaue auf der Karte, wie weit ich vielleicht noch kommen kann, und ob ich dort ein Hotel finde. Ich reserviere vorsichtshalber. Und bin dann froh, dass ich am Abend nicht lange suchen muss. Denn bis zum Ankommen ist es schon dunkel geworden. Im Sommer wäre es um halb 5 Uhr wahrscheinlich nur eine kleine Pause geworden. Doch jetzt im November geht um diese Zeit nichts mehr mit Fahren.
Am Morgen lasse ich die Mundwinkel kurz hängen. Gut gelaunt will ich losstarten, doch der Hinterreifen ist platt. Es ist die Nummer 13, die ich vor dem Hoteleingang flicke. Dafür habe ich etwas mehr Sonne, als ich mit der Reparatur fertig bin, und alles wieder aufgeladen habe. Der Vormittag ist zum Fahren ganz ok. Ich wechsle zwischen Haupt- und Nebenstraßen ab. Je nachdem, was mir auf der Karte als kürzere Route vorkommt. Denn schon für Mittag hatte der Wetterbericht Regen angesagt. Ich konnte die nahende Regenfront schon von weitem sehen. Es war wie ein Teilen der Landschaft in zwei Hälften. Links von einer kleinen Erhebung in der Landschaft Richtung Süden blieb es sonnig. Rechts, in meiner Richtung nach Westen, hingen die Wolken tief und es fing pünktlich zu regnen an. Auch wenn nicht stark, so doch stark genug, mich von der Weiterfahrt abzuhalten. Kurz entschlossen suchte ich in der gerade erreichten größeren Stadt nach einem Hotel. Der erste Anlauf ging ins Leere. Vielleicht wollten sie keine Radler haben, war mein Eindruck. Doch beim zweiten Anklopfen kam ich unter, und war nicht mal sehr nass geworden.
13. November 2019
Feines Wetter
Markusplatz in Venedig meterhoch unter Wasser. Schneechaos in den österreichischen Alpen. Diese Schlagzeilen lese ich am Abend im Internet. Mein Regentag geht da natürlich etwas unter, wird nirgends erwähnt. dabei hatte auch ich heute mit dem Wetter zu kämpfen. In voller Regenmontur am Morgen gestartet, merke ich bald, dass meine Überziehschuhe Wasser durchlassen. Mist, denke ich mir. Und auch, feines Wetter. Fein für Enten nämlich, nicht jedoch für Radler. Das Regenwasser sammelt sich in allen Vertiefungen der Straße. Und im Graben neben dem Asphalt als Übergang zum unbefestigten Bankett sowieso. Dazu kommt der morgendliche Frühverkehr der Stadt.
Ich weiche kurz entschlossen auf eine Nebenstraße aus. Doch die führt in die nebelverhangenen Hügel hoch, und bringt mich mit meinen Regensachen zum Schwitzen. Vom Helm läuft mir das Wasser vorne über die Brille herunter. Hinten merke im Kragen mein angefeuchtetes Kopftuch. Dazu fühlen sich die Socken bereits so an, als ob ich irgendwo durchs Wasser gewatet wäre. Meine Goretex-Sachen sind merklich überfordert. Von außen wohl dicht, kommen sie mit meinem Schwitzen nicht klar. Ich bereue, dass ich so früh losgefahren bin. Denn im Laufe des Vormittags lässt der Regen nach. Und so ziehe ich Schicht für Schicht wieder aus. Der Fahrtwind trocknet einiges ab. Mit der sich zaghaft zeigenden Sonne wird es dann sogar richtig fein zum Fahren. Nur die Socken bleiben feucht. Und die Duftnote meines Trikots ist auch etwas eigen. Doch solange ich in Bewegung bin, stört es mich kaum. Und wenn ich die Sachen im Hotel dann waschen kann, ist alles wieder ok. Am Abend checke ich den Wetterbericht für die nächsten Tage. Ich bin froh, dass kein Regen mehr angesagt ist. Denn bei Nässe hält sich mein Spaß am Radeln merklich in Grenzen. Den habe ich bei feinem Wetter deutlich mehr.
15. November 2019
Verbotsschilder noch und noch
In Budapest stoße ich auf meine Route von der Hinfahrt. Es ist eine Brücke weiter oben, auf der ich die Donau quere. Und es ist um 30 Grad kälter als damals Mitte August. Doch die Donau ist gleich schön anzuschauen.
Am Weg Richtung Plattensee dominiert Schilfrohr die Landschaft. Und am See sowieso. Mit dem Nebel und dem Nieseln am Morgen hat es eine ganz eigene Stimmung. Zum Glück hellt es dann leicht auf, sodass ich auch vom See etwas mitbekomme. Im Sommer wird rund um den Balaton sicher mehr los sein als jetzt im November. Doch ganz allein bin ich auch wieder nicht. Ich teile den Weg mit einer Unzahl an Fahrverbotsschildern für Fahrräder.
Kaum gibt es an der Seite einen Fahrradweg, ist auf der Hauptstraße ein Verbotsschild für Fahrräder aufgestellt. Egal wie schmal, oder kurz, oder verwinkelt, oder holprig so ein als Radweg beschildertes Straßenstück auch sein mag. Auf der Hauptstraße daneben prangt sofort ein Verbotsschild für Fahrräder. Und dieses Schild kann dann auf wenigen 100 Metern gleich ein paar Mal angebracht sein, nämlich so oft wie eine Nebenstraße einmündet. Ich entwickle einen Widerwillen gegen die Radwegbenützung. Da komme ich in feinem Rhythmus auf der Hauptstraße voran und sehe das Schild mit dem Fahrverbot für Fahrräder. Ok, abbremsen, suchen wo der Radweg beginnt. Dort ein paar Meter machen, natürlich langsam, weil uneben, stoppen, weil Radweg schon wieder fertig. Auf der Hauptstraße neu einordnen, Rhythmus finden, abbremsen, weil wieder Verbotsschild. Das Spiel schmeckt schon bei der zweiten Runde etwas fad. Und ab der dritten steige ich aus. Ich fahre auf der Hauptstraße weiter und bleibe dort. Nur hin und wieder probiere ich den Radweg, des schlechten Gewissens wegen. Oder dann, wenn sich ein längeres gutes Stück abzeichnet. Ein paar schöne Kilometer waren da natürlich schon auch mit dabei. Doch das waren es auf der Hauptstraße auch, und eindeutig mehr. Gefreut hat mich der Tag jedenfalls. Denn irgendwo am Ufer des Balaton habe ich die 10.000 Kilometermarke auf meiner Tour geknackt. Ich glaube, es war auf dem Radweg, auf gleicher Höhe mit einem der Verbotsschilder für Fahrräder auf der Hauptstraße.
Vom Plattensee Richtung Westen bis zur slowenischen Grenze sind es knapp 70 Kilometer. Sie sind zum Radfahren Genuss pur. Die Straße geht immer wieder durch kleine Waldstücke mit vielen Eichen. Es ist ein leichtes Auf und Ab ohne große Steigungen bei nur wenig Verkehr. Es gefällt mir sehr, obwohl es am Morgen wieder leicht regnet. In den Waldstücken liegt das nasse Laub schwer am Boden. Wenn ich langsam fahre, kann ich hören, wie die großen Tropfen drauf klatschen. Gegen Mittag klart es auf und es wird freundlicher. Am Himmel sind ein paar blaue Flecken zu erkennen. Groß genug, dass sie meine Stimmung heben. Auch auf slowenischer Seite ist es fein zum Radeln. Es geht flach weiter, mit großen Feldern. Ein blaues Schild mit gelben Sternen und der Aufschrift Slovenija markierte die Grenze.
17. November 2019
Eine Überraschung
Über kleine Straßen und Ortschaften und einige Hügel mit Weingärten finde ich den Weg nach Maribor. Im Nebel fällt mir die Orientierung etwas schwer. Doch das Wetter wird mittags wieder besser und ab der Stadt gibt mir die Drau sowieso die Richtung vor. Sie zeigt sich als richtig großer Fluss und führt mächtig Wasser. Die Strudel bei den Kraftwerksgerinnen schauen ganz bedrohlich aus. Hier fließt also der viele Regen der vergangenen Tage weiter, den es flussaufwärts gegeben hat.
Am Abend bekomme ich überraschend Besuch. Da bin ich auf Reisen und nie fix an einem Ort, und doch stöbert mich jemand auf. Es ist mein Freund Toni. Im August war er noch enttäuscht, dass meine Route nicht bei ihm zu Hause vorbeiführte. Doch jetzt, 3 Monate später, ergreift er die Chance auf ein Treffen beim Schopf. Er fährt mir mit dem Auto ein paar Kilometer über die Grenze nach. Ich freue mich, und übe mich in einem ersten Reisebericht. Im Erzählen merke ich, wie dicht die letzten Monate waren. Und dass da so viele spannende Sachen dabei waren. Und dass mir das Radeln taugt. Es ist ein nettes Treffen, das sich spontan und reichlich zufällig ergeben hat. Wir freuen uns beide.
18. November 2019
Zurück in Österreich
Am Morgen ist es ziemlich frisch. Die Straßen sind noch nass vom vielen Regen der Nacht. Meine Route führt mich kurvig durch ein schmales Tal entlang eines Baches. Er füllt sein Bett ziemlich aus. Hie und da schwappt er fast über. Vielleicht freut er sich wie ich, dass die Sonne hervorgekommen ist. Der Himmel zeigt sich nämlich in einem zarten Blau. Und auf den Bergspitzen glitzert der Schnee. Auch zum Radeln ist es recht fein. Die Steigung ist ganz regelmäßig und nicht sehr groß. Schnell habe ich den Grenzübergang nach Kärnten erreicht. Entlang der Karawanken fahre ich weiter nach Westen. Es gefällt mir, durch die kleinen Dörfer und grünen Wiesen zu rollen. Ein paar Ortsnamen kommen mir bekannt vor, andere lese ich zum ersten Mal. Und bei manchen staune ich, dass es sie gibt. Und dass die Tafeln zweisprachig sind, macht das Lesen noch etwas interessanter, lustiger. In einem Lebensmittelmarkt kaufe ich mir eine Jause. Ich überfliege das riesige Angebot in den Regalen. Die letzten Monate hat es da in den kleinen Ortschaften etwas anders ausgeschaut. Ja, darauf freue ich mich, wenn ich dann zu Hause bin: Wieder etwas mehr einkaufen zu können. Doch ausgekommen bin ich bisher mit dem Wenigen dennoch ganz gut. Ich habe auch nie nach einem Molkegetränk mit Mango gesucht. Nur bei dessen Anblick jetzt im Regal musste ich natürlich sofort zugreifen.
Im Gasthof frage ich am Abend nach einem vegetarischen Menü. Die Wirtin muss nicht lange nachdenken. Sie schlägt mir einen Salat vor, und dazu 4 verschiedene Sorten Nudeln. Es klang überzeugend. An italienische Pasta denkend war ich mit dem Vorschlag sofort einverstanden. Nudeln passen ja zum Radeln ideal dazu. Doch ich bin wohl in Österreich, aber noch nicht zu Hause angekommen. Denn die freudestrahlend servierten Nudeln waren natürlich "Kärntner Nudeln", also gefüllte Teigtaschen, und keine richtige Radler-Pasta. Ich musste schmunzeln. Die sprachlichen Schwierigkeiten setzen sich auch in Österreich fort.
19. November 2019
Kein Radlerwetter
Der Wetterbericht kündigte Regen an. Nicht sehr stark, doch ohne Unterbruch, und temperaturmäßig nur wenige Grad Plus. Dazu dominieren in den Nachrichten die Meldungen zu den Unwetterschäden in Oberkärnten und Osttirol. Ich verfolge sie mit einiger Neugier. Denn mein angedachter weiterer Routenverlauf führt genau dorthin. Nur mit den vielen Straßensperren scheint er nicht realisierbar zu sein. Ich entscheide mich für Abwarten. Vielleicht einfach einen Tag Pause einlegen und dann weiterschauen. Also nutze ich den Tag für ein Treffen mit dem Rahmenbauer meines Rades.
Im Schnürlregen und mit kalten Fingern fahre ich der Drau entlang nach Villach. Jürgen ist interessiert, wie das von ihm gebaute Rad nach 10.000 Kilometern ausschaut. Und noch mehr, was ich an Erlebnissen zu erzählen weiß. Bei Pizza und Salat fange ich an zu berichten. Während er und seine Frau Elisabeth längst fertig sind mit Essen, habe ich noch den halben Teller voll. Anscheinend habe ich viel zu Erzählen. Na ja, es sind sonst eher ganz schweigsame Tage am Rad. Ich hole wohl etwas nach.
20. November 2019
Straßensperre
Der auf die vielen Sonnenstunden so stolze Süden zeigt sich heute schon wieder nebelverhangen und kalt. Ich fahre das Drautal hoch. Der Nebel bleibt. Was dazu kommt, ist der Schnee. Zuerst gibt es ihn nur als ganz kleine Flecken am Straßenrand, als Rest vom Räumen mit dem Pflug. Doch bald sind auch die Wiesen weiß, sofern nicht das Wasser in ihnen steht, vom vielen Regen. Und wenn sich mal ein Blick auf die Hänge links und rechts des Tales auftut, dann ist die Schneedecke schon ganz dicht.
Immer wieder stoße ich auf Vermurungen in den Wiesen. Die Bäche haben sich eigene, neue Wege gesucht. Bei einer Tankstelle erkundige ich mich wegen der Weiterfahrt. Denn davor gab es ein Hinweisschild, dass die Straße nach Lienz im Osttirol gesperrt ist. Der Radweg war sowieso unbenutzbar. Entweder stand er unter Wasser, oder er war noch nicht vom Schnee geräumt. Die Frau an der Kassa empfiehlt mir ein Umsteigen auf den Zug. Als Alternative gäbe es nur eine großräumige Umfahrung. Denn die kleinen Schleichwege seien ebenfalls vermurt. Ich entscheide mich für ein Weiterfahren und Schauen was kommt. Auf den Zug kann ich ja immer noch umsteigen. Und die Straßensperre beginnt erst ein paar Ortschaften weiter.
Doch dort stehe ich dann wirklich an. Die Absperrung ist gut verankert und das Fahrverbotsschild groß. Ziemlich weit vorne kann ich Bagger erkennen, die Schlamm auf Lastautos verladen. Auch steht ein Auto der Straßenmeisterei mit Warnleuchte dort. Mist, denke ich mir, da stecke ich jetzt wohl in einer Sackgasse fest. Zurück zum letzten Bahnhof, oder Zuwarten? Ich probiere es mit Warten, denn es ist erst kurz nach 12 Uhr. Vielleicht tut sich noch was auf. Nach einiger Zeit setzt sich das orange Auto mit der Warnleuchte tatsächlich in Bewegung. Es fährt in meine Richtung. Also frage ich den Arbeiter beim Öffnen der Absperrung, ob ich da vorne nicht schiebend vorbeikomme. Zuerst will er davon nichts wissen. Doch dann holt er sein Telefon hervor, und nach einem kurzen Hin und Her bekomme ich die Freigabe. Die Aufräumarbeiten sind ohnedies schon fast fertig, ist meine Einschätzung beim Passieren der riesigen Vermurungsstelle.
Ich freue mich, dass ich trotz noch gesperrter Straße gleich weiterkomme. Sie gehört danach für kurze Zeit nur mir allein. Doch mit jedem Kilometer mehr werden die Schneemengen am Straßenrand größer. Ich staune. Da war ich erst unlängst an saftigem Wiesengrün vorbei geradelt. Und jetzt finde ich fast tiefwinterliche Verhältnisse vor. Zum Radeln hat mir das Grün in den Wiesen eindeutig besser gefallen. Denn mit so viel Schnee schon in dieser Höhe, könnte sich die Ungewissheit des Weiterkommens vielleicht fortsetzen.
21. November 2019
Schnee Juchhe, Brot Juchhe
Ich radle das untere Pustertal hoch. Die Straße ist salznass. Es hat 1 Grad Minus. Es fröstelt mich, mir ist kalt. Bei Straßenkreuzungen türmt sich der weggeschobene Schnee meterhoch. Viele Bäume entlang der Straße sind geknickt. Nicht nur einzelne Äste sind abgebrochen, sondern oft ganze Stämme in halber Höhe. Das setzt sich so fort bis weit nach der Grenze zu Italien. Bei steileren Böschungen oder Hängen sind ganze Schneisen mit entwurzelten Bäumen entstanden. Die starken Schneefälle der letzten Tage haben eine Spur der Verwüstung durch das Tal gezogen. Nur in Sillian und Toblach, an den Scheitelpunkten des Tales, schaut es etwas freundlicher aus. Wohl auch, weil dort heute die Sonne etwas über die Dolomiten rüber blinzelt, und den vielen Schnee glitzern lässt. Man könnte meinen, Winteridylle pur. Doch mit meinem Fahrrad passe ich da nicht richtig her. Eher sollte ich Ski dabeihaben. Dann würde ich wohl laut juchzen, Schnee Juchhe.
Ein Juchhe gibt es heute dennoch, nur etwas später. Nicht wegen des einsetzenden Nieselregens, sondern wegen eines Gebäcks. Ich entdecke in einem Laden Südtiroler Schüttelbrot. Juchhe. Und am nächsten Tag gibt es sensationelles Sauerteigbrot zum Frühstück. Wow, das schmeckt. Brot Juchhe.
22. November 2019
Radweg nur für mich allen
Heute ist Radwegetag. Ab Brixen über Bozen bis Meran, und dann mit etwas Rückenwind den Vintschgau hoch. Entlang der beiden Flüsse Eisack und Etsch. Es ist sonst niemand am Weg. Der Radweg gehört nur mir allein. Verständlich, sagt die Wirtin dann am Abend. Bei den Temperaturen und dieser Jahreszeit sind nur Verrückte am Weg. Und um diese Aussage zu hören, musste ich recht lange suchen. Denn auch im Vintschgau ist die Herbstsaison längst vorbei, und alle Hotels haben zu. Oder jedenfalls jene, die ich kurz vor der Dämmerung abgeklappert bin. Ich musste ein paar Extrakilometer machen, bis ich endlich eine Unterkunft fand. Dabei könnten sie für die Wintersaison schon wieder aufmachen. Es hat auch hier in Prad auf 900 Meter Höhe schon ordentlich Schnee. Doch nur wenige Höhenmeter tiefer ist die Apfelernte noch im Gang. Den Bauern kam der Schnee etwas zu früh. Und es fehlten jetzt vor der Ernte auch die ganz wichtigen Sonnentage. Die Pink-Ladies hätten etwas wenig Farbe, ließ ich mir erklären, als ich bei einer Plantage stehen blieb. Doch saftig war der geschenkte Apfel dann dennoch, und angenehm knackig im Biss.
Im Zimmer riecht es fein nach Zirbenholz. Es ist neu eingerichtet. Und die untere Befestigung einer meiner Ortlieb-Taschen hat der Hausherr persönlich geflickt. Denn ich habe schon zum zweiten Mal eine der Kunststoffschrauben verloren. Die jetzt eingesetzte Blechschaube wird den Arretierungsbügel sicher bis nach Hause halten. Ich bin mit dem Tag zufrieden. Und das Fahrrad habe ich heute bei einer Waschanlage auch abgespritzt. Kurzfristig sah es für ein paar Kilometer supersauber aus. Doch am Abend beim Verstauen in der Garage war die alte Schmutzimprägnierung wieder hergestellt.
23. November 2019
Rhätische Bahn statt Höhenmeter
Mit leichtem Rückenwind fahre ich den Reschenpass hoch. Es sei gut, wenn der Wind im Vintschgau von unten komme, habe ich beim Frühstück gehört. Nicht erwähnt haben sie, dass der Wind einem die Temperatur deutlich kälter empfinden lässt. Es ist saukalt. Ich friere, obwohl ich kräftig am Strampeln bin. Ab der Hälfte des Passes kommt Nebel dazu. Novemberstimmung von ihrer besten Seite. Doch auf Höhe des Sees verziehen sich die Nebel zum Berghang hin. Ich kann das Wasser und den Wellengang sehen. Mystische Stimmung, fällt mir als Kommentar ein.
Mit klammen Fingern und hochgezogenem Kragen rolle ich dem See entlang. Bei der Stelle mit dem Kirchturm im Wasser ist eine Frau zum Fotografieren aus ihrem Auto ausgestiegen. Ich bleibe ebenfalls stehen. Der viele Schnee auf dem nicht geräumten Platz im Vordergrund, das fahle Grau des Wassers, und der Kirchturm darin von Nebel umgeben schauen einzigartig aus. Ich frage sie um ein Foto, und posiere schlotternd für den Schnappschuss. Sie macht mehrere Aufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven und meint, dass es gut ausschaue. Doch wahrscheinlich war der Batterie zu kalt. Oder der Wind hat alle Fotos weggeblasen. Oder es ist der guten Frau beim Fotografieren ein anderes Missgeschick passiert. Denn auf der Speicherkarte finde ich am Abend nicht eine Aufnahme von mir und dem Kirchturm im Wasser und dieser einzigartigen Stimmung.
Nach der Passhöhe und einer kurzen Abfahrt mache ich in einem Bistro Pause. Weiterfahren wäre nicht mehr gegangen. Denn meine Finger und Zehen fühlen sich eiskalt an. Die Leute, die mit dem Auto zum Einkaufen kommen, haben alle dicke Wintersachen an. Da kann ich mit meinen paar wenigen dünnen Schichten nicht mithalten. Ich schaue nach dem Wetterbericht und dem Straßenzustand für die Schweiz. Die zwei möglichen Passübergänge im Engadin mit Julier und Flüela sind zwar offen, doch wird Schneefahrbahn angegeben. Damit ist meine Route klar: Mit meinem Fahrrad und meiner Ausrüstung habe ich da nichts verloren. Ich werde mit der Rhätischen Bahn durch den Vereinatunnel fahren. Den Waggon habe ich dann ohne Aufpreis für mich allein. Und eine Fußheizung noch dazu. Ich trockne meine nassen Überziehschuhe an der Heizleiste. Bei Kälte und Nebel in den Tunnel eingefahren zeigt sich das Wetter bei der Ausfahrt aus dem Tunnel von einer ganz anderen Seite. In Klosters ist es föhnig. Die Berge sind wolkenfrei, und in den Straßen flanieren einige Touristen. Vielleicht wäre der Pass doch gegangen ...
24. November 2019
Werkzeugsuche und professionelle Hilfe
Die ersten Kilometer lassen sich heute flott machen. Es geht abwärts. Irgendwann meine ich beim Bremsen, dass es metallisch klingt. Gut vorstellbar, dass die Bremsbeläge abgefahren sind. Nach ein paar weiteren Kurven entscheide ich mich für ein Wechseln der Beläge. Doch es bleibt beim Vorsatz. Denn ich finde bei meinem Werkzeug keinen passenden Inbusschlüssel. Den habe ich wohl irgendwo liegen gelassen, und bisher nicht bemerkt, dass einer fehlt. Ich ärgere mich, dass ich das Werkzeug nicht in einem Set, sondern nur lose mitgenommen habe. Zum Glück ist in einer der nächsten Ortschaften Weihnachtsmarkt und ein Radgeschäft hat offen. So kann ich die hinteren Bremsbeläge wechseln. Oder vielmehr hilft mir der Radhändler dabei. Er will bei meiner unbeholfenen Fummelei nicht lange zusehen, und greift unterstützend ein. Ja, gelernt ist gelernt, und die Handgriffe von Professionisten unterscheiden sich doch merklich von denen der Hobbybastler. Es ist mir reichlich peinlich, das nicht allein hingekriegt zu haben. Dafür bekomme ich jedoch Respekt, als ich ihm von meiner Route erzähle. Und zum Händewaschen bietet er mir dann gar noch seine Spezialwaschpaste an. Mit etwas Zeitverzug setze ich meine Fahrt wieder fort. Sie führt flach und auf dem Radweg dem Walensee entlang ins Linthgebiet. Wahrscheinlich ist es der vorletzte Tag meiner großen Tour. Morgen wären dann genau 4 Monate um.
25. November 2019
Finale und Heimkommen
Ich genieße das Frühstück mit Blick auf den Zürichsee. Nebelige Morgenstimmung mit ruhigem Wasser. Eine gute Fahrt, ruft mir die Kellnerin nach. Ich gehe es gemütlich an. Oder vielleicht auch bewusster als sonst. Es wird ja mein letzter Tag auf dieser langen Tour sein. 11.000 Kilometer bin ich bisher am Stück noch nie gefahren.
Die Gegend am Zürichsee ist mir vertraut. Ich kenne die Wege und Ortschaften. Nach einem Besuch in Uznach lasse ich mich gut gelaunt durch die Linthebene treiben. Die Sonne hellt den Nebel auf. Ich fahre in ihre Richtung. In Mollis lässt sie die Blätter der Bäume am Berghang farbig bunt erstrahlen. Oder mir kommt es so vor. Es hat sich ein kleines blaues Fenster am Himmel aufgetan hat. Doch als ich nach dem Mittagessen wieder aufs Rad steige und den Kerenzerberg angehe, hat sich der Nebel wieder durchgesetzt. Also heißt es, kräftiger treten, damit mir nicht zu kalt wird. Und so komme ich auch gut den Berg hoch.
Das Rheintal bei Liechtenstein habe ich im Nu passiert. Die Grenze bei Feldkirch ebenso. Und so klingle ich wenig später an der Tür meiner Eltern. Sie freuen sich mächtig, und ich mich mit ihnen. Das Heimkommen nach langer Abwesenheit in der Fremde hat für ihre Generation eine besondere Bedeutung.
Ich genieße die gelöste Stimmung. Ich erzähle, dass es mir gut gegangen ist. Dass mir immer wieder freundliche Menschen weitergeholfen haben. Dass mich die bescheidenen Verhältnisse der Leute am Land betroffen machten. Dass mir das Radeln voll getaugt hat. Dass es unglaubliche 18 Länder waren. Dass ich nie krank war. Dass mir das Essen geschmeckt hat. Dass bei den Betten so ziemlich alles dabei war, was man sich vorstellen kann. Dass das Zelten super war. Dass es lustige Vorkommnisse gab. Dass der Winter leider zu früh gekommen ist. Dass ich jetzt mal alle Sachen auspacke. Dass ich mich freue, wieder daheim zu sein. Und, dass ich ganz sicher wieder weiterradeln werde …