Von Montreux in der Schweiz startend, fahre ich mit dem Mountainbike und meiner Freundin den Alpenbogen runter bis nach Ventimiglia am Mittelmeer. Schöne Trails, reichlich Höhenmeter, und auf Bergwegen ziemlich viel zum Schieben. Schweißtreibend, aber schön. Und von der Routenwahl ziemlich extrem.
Tourdaten: 14 Tage, 800 Kilometer, 26.000 Höhenmeter
Es ist Mitte März 2016. Ich bin mit meinem Freund Günter auf Skitour. Wir sind bei besten Bedingungen auf der Route Hochtirol am Weg. Sie führt uns von Kasern im Südtirol in 6 Tagen zum Großglockner. Am zweiten Tag nächtigen wir auf der Johannishütte im Venedigergebiet. Beim Abendessen entdecke ich an einem der Nebentische ein mir bekanntes Gesicht. Die Freude ist groß. Es ist Dana. Sie ist mit ihrer Freundin ebenfalls auf Skitour, und macht in der gleichen Hütte Station. Ich kenne Dana flüchtig von ein paar Skitouren daheim. Überrascht von dem Treffen hier kommen wir ins Plaudern. Wir sprechen über unsere letzten Touren, was wir jetzt vorhaben, wie die Bedingungen heuer sind, oder welche Ziele uns noch anmachen in nächster Zeit.
Als Ergebnis des launigen Hüttenabends gibt es eine gemeinsame Vereinbarung: Wir wollen beide bei einer großen Tour des anderen mitmachen. Ich sage zu, mich Dana bei ihrer für Ende April geplanten Skidurchquerung im Wallis in der Schweiz anzuschließen. Es ist die Tour de Ciel, von Zermatt bis zum Bishorn. Dana will diese anspruchsvolle Hochtour mit ein paar Freunden und einem Bergführer machen. Im Gegenzug wird sie mich bei meinem Vorhaben begleiten, das ich für den Sommer im Kopf habe: Mit dem Mountainbike in 2 Wochen vom Genfersee bis zum Mittelmeer. Ich habe darüber mal einen Tourenbericht von Achim Zahn gelesen. Ziemlich herausfordernd, geniale Landschaft, einsame Wege, grandioses Abenteuer mit dem Bike. Und weil wir beide einander mit Begeisterung von unseren Plänen erzählen, lassen wir uns aufeinander vertrauend darauf ein. Dabei haben sowohl Dana als auch ich etwas Bammel. Denn mir fehlt die Fertigkeit im Bergsteigen oder bei Hochtouren. Und Dana die Erfahrung im Biken, das sie erst seit kurzem macht. Doch so viel wissen wir voneinander, dass wir beide ziemlich zäh sein können, und Ausdauer und auch sportlichen Ehrgeiz haben.
Die Tour de Ciel im Wallis erweist sich dann als absolute Hammertour. Obwohl Ende April ist, haben wir Neuschnee und tolle Bedingungen. Die Abfahrten sind alle nordseitig ausgerichtet. Es gibt unverspurten Pulver nach jedem Übergang. Dazu ein geniales Ambiente mit zahlreichen Viertausendern ringsum. Auch einige feine Anstiege mit Steigeisen und Pickel sind dabei. Und für mich warteten ein paar Mutproben auf den ausgesetzten Graten. Die Zeit nach der Hochtour bis zum Sommer beweist dann Dana ihren Mut mit dem Bike. Sie ist eifrig am Trainieren. Sie hat das Rad erst ein halbes Jahr, und nur wenige Biketouren in den Beinen. Biken war bisher nicht so ihr Ding. Doch ausgemacht ist ausgemacht, und der Start unseres Westalpen Cross mit 26. Juli schon fixiert. Wir wollen uns beide mutig darauf einlassen, und das Hochgefühl von der Tour de Ciel fürs Biken mitnehmen.
Montreux - am Bahnhof geht es los mit Biken
Viel zu packen hatten wir am Vortag nicht. Ein kleiner Rucksack musste für die geplanten 2 Wochen mit dem Bike genügen. Der Tag beginnt schon recht früh. Wir nehmen von daheim den frühestmöglichen Zug. Mit ein paar Mal Umsteigen fahren wird quer durch die Schweiz bis nach Montreux. Dort starten wir kurz vor Mittag in unser anspruchsvolles Abenteuer mit dem Bike.
Entspannt dem Genfersee entlang fahrend stoßen wir bald auf ein Hindernis. Die von mir ausgesuchte Route auf das Plateau über dem See erweist sich als viel zu steil. Es ist ein wurzeldurchsetzter Wanderweg durch den Wald und nicht fahrbar. Also üben wir uns die 500 Höhenmeter aufwärts im Schieben. Kein wirklich guter Einstieg in die Tour. Doch danach ist es fein zum Fahren, und wir machen mächtig Tempo.
Weiter im Westen sehen wir über dem Tal von Morzine ziemlich dunkle Wolken. Rund um uns bleibt es jedoch trocken. So genießen wir auf den folgenden Passübergängen die feine Abendstimmung und das Wechselspiel des Lichts. Reichlich spät brausen wir nach Champery hinunter. Gleich beim ersten Hotel klopfen wir an. Wir werden freudig begrüßt und bekommen sogar ein Upgrade beim Zimmer. Sie hätten so spät eigentlich keine Gäste mehr erwartet. Und kaum haben wir unsere Bikes im Skikeller deponiert, schließt auch schon die Rezeption. Etwas müde nach dem langen Tag sind wir dennoch zufrieden. Der Einstieg hat geklappt. Wir sind am Weg.
Zum Col de Susanfe - Kraxeln und Schieben
Mit einem feinen Frühstück starten wir den zweiten Tag. Dana ist hellauf begeistert vom reichhaltigen Buffet. Beide langen wir kräftig zu. Die Etappe soll laut Beschreibung anstrengend und herausfordernd werden. Und als solches erweist sie sich dann auch tatsächlich. Bis zur Alm Bonavau geht es auf einer Forststraße und dem Almweg noch ganz gut. Doch danach wird es abenteuerlich.
Wir sehen von der Hütte aus, wie sich ein schmaler Pfad Richtung Bergmassiv hochwindet. Als wir am Fuße der Felsen ankommen, wissen wir nicht so recht, wie wir unsere Bikes da hochbringen können. Es sind mächtige Felsblöcke, die stufenartig den Weg abzeichnen. Zum Teil ist er mit einer Kette gesichert. Wir probieren zuerst, einander beim Hochziehen und Hochschieben der Bikes zu helfen. Doch schnell erkennen wir, dass wir dann doppelt so lange brauchen. Also müht sich jeder für sich allein auf dem klettersteigähnlichen Weg hoch. Dort wo wir die Räder nicht tragen können, schleifen oder zerren wir sie mit einer Hand hinter uns her. Die andere Hand haben wir immer an der Sicherungskette am Felsen. Denn daneben geht es senkrecht hinunter in eine Schlucht. Es ist ziemlich grenzwertig, was wir da machen. Ich wundere mich nicht, dass viele die ersten beiden Etappen auslassen, und erst in Martigny auf die Räder steigen.
Bei der Cabane de Susanfe staunen die Hüttengäste, als sie uns mit den Bikes daherkommen sehen. Sie selber hatten beim Aufstieg nur Seil und Pickel hochgeschleppt, wir mit den Rädern dagegen deutlich sperrigere Sachen. Dazu waren wir noch mit Schuhen am Weg, die eigentlich für andere Zwecke gedacht sind. Doch an Fahren war danach ebenfalls nicht zu denken. Wir schieben unsere Räder weitere 500 Höhenmeter die Geröllhalde bis zum Passübergang hoch. Kurz vor dem Col queren wir auch noch einige Schneefelder. Dana meint, dass sich das Mitnehmen der Ski eventuell rentiert hätte. Doch die andere Seite war ohnedies schneefrei. Wir hätten also nicht mit den Skiern abfahren können. Doch das konnten wir auch nicht mit den Bikes. Der Weg war viel zu steil und zu weichschottrig, die Kehren zu spitz angelegt. Erst kurz vor dem Lac de Salanfe steigen wir wieder auf die Räder. Beide meinen wir kopfschüttelnd, dass wir so eine Etappe mit dem Bike noch nie gemacht haben. Wir klopfen uns gegenseitig auf die Schultern, ob unseres Mutes und des Durchhaltevermögens. Mit dem Bike am Klettersteig ist doch etwas Außergewöhnliches. Gut gelaunt genießen wir gegen Abend bei flottem Tempo die vielen Serpentinen auf der Straße hinunter bis nach Martigny. Es ist unser Etappenziel an diesem anstrengenden Tag.
Val Ferret - Feine Etappe mit Knarzen
Der Sommer zeigt sich schon am Morgen von seiner besten Seite. Angenehm warm, blauer Himmel, Sonnenschein, und dazu ein sensationelles Panorama. Entlang der Straße Richtung Großer St. Bernhard stehen die Marillenbäume Spalier. Fast können wir im Vorbeifahren die orangebackigen Früchte pflücken. In angenehmer Steigung geht es zum Lac de Champex hoch. Doch ein zunehmend stärker werdendes Geräusch stört die Bikeridylle. Es ist ein Knarzen bei jedem Wiegetritt, das von Danas Bike ausgeht. Beim Nachschauen merken wir, dass das Tretlager deutlich Spiel hat. Offensichtlich ist es defekt. Beim Servicecheck daheim war wenige Tage davor noch alles ok. Wir fahren dennoch mit dem Knarzen weiter. Denn im Val Ferret findet sich ja sowieso keine Werkstatt. Da gibt es nur feine Trails, und eine schöne Bergkulisse.
Wir überqueren die Grenze zwischen der Schweiz und Italien und fragen einander nach den Bergnamen aus. Denn hier in dieser Gegend war ich auf der Haute Route schon mal mit den Skiern unterwegs. Nach dem Col du Grand Ferret beginnt eine steile Trailabfahrt. Auch Dana meistert sie bravourös. Ja, so macht Biken Spaß. Wir belohnen uns mit einer kurzen Pause. Wir liegen im Gras und dösen, bestaunen aus üppigem Wiesengrün mit bunten Bergblumen die eindrucksvollen Felswände der Grandes Jorasses. Und irgendwann schwingen wir uns wieder auf die Räder, rollen das lange Tal auswärts, entlang eines mächtigen Gebirgsbaches und abgeschattet unter Bäumen.
Wir schaffen es bis Courmayeur. Dort geht sich sogar noch etwas Sigthseeing aus, auf der Suche nach einem Fahrradladen. Doch die wollen nur neue Räder verkaufen, und keine Tretlager reparieren. Zum Glück hilft uns dann abends die Zimmervermieterin weiter. Sie macht ein paar Fotos von der Kurbel und schickt sie an einen Bekannten. Am Telefon probiert sie ihm noch zu erklären, was wir als Defekt vermuten und als Ersatzteil brauchen. Sie meint, dass es sowieso nur Giancarlo Benato in Arvier reparieren kann. Der sei mal ein berühmter Radrennfahrer gewesen und kenne sich als Einziger in der Gegend mit Rädern aus. Sie empfiehlt uns, am nächsten Morgen gleich den ersten Bus dorthin zu nehmen. Die Werkstatt liegt nämlich in entgegengesetzter Richtung wo wir hinwollen, und das dazu noch 40 Kilometer weit entfernt. Wir freuen uns über die Hilfsbereitschaft, und auch über die Aussicht auf Reparatur des Rades.
Val Feny - Busfahren und Staunen
Der Tag beginnt mit der uns empfohlenen Busfahrt. Doch ganz so einfach war es nicht. Denn der italienische Busfahrer mit dunkler Sonnenbrille und geschniegeltem Haar will Danas Rad partout nicht mitnehmen. Das wäre im Linienbus nicht vorgesehen. Erst nach einigem Hin und Her willigt er dann doch ein. Wir können das Rad im Gepäckfach unterbringen. Kurz danach schaukeln wir im fast leeren Bus durch das Aostatal bis nach Arvier hinunter.
Den Fahrradladen finden wir auf Anhieb. Der Mechaniker bei Cicli Benato hat das Tretlager in wenigen Minuten ausgetauscht. Mit ein paar gezielten Schlägen fördert er die Reste der Lagerschale nach außen, setzt eine neue ein, und freut sich, dass er uns weiterhelfen konnte. Schon fein, wenn alles so gut klappt. Doch wir haben die Rechnung ohne den Busfahrer gemacht. Er kommt zwar pünktlich für die Rückfahrt daher, nur das Rad erlaubt er nicht einzuladen. Sein „No“ wiederholt er mehr als nur ein paar Mal. Auch Danas gutes Zureden nützt nichts. Das Rad darf nicht mit. Unser Zeitplan für den Tag und die Etappe droht damit zu scheitern. Denn die 40 Kilometer zurück nach Courmayeur sind auch noch mit einigen Höhenmetern garniert. Ich biete Dana an, dass ich die Rückfahrt mit dem Rad für sie mache. Doch schon nach wenigen Kilometern bereue ich das Angebot. Denn mit Danas schickem Rotwild-Hobel komme ich kaum zurecht. Mit dem möchte ich unsere Tour nicht fahren müssen, denke ich mir, kräftig in die Pedale tretend. Ziemlich verschwitzt erreiche ich kurz vor Mittag wieder unser Hotel, wo Dana schon wartete. Die Pause bis zum Weiterfahren und dem eigentlichen Start unserer Tagesetappe dauerte dann etwas länger. Denn Dana hatte zur Stärkung eine feine Jause eingekauft. Sie meinte, auch Busfahren mache hungrig.
Das Val Veny ist ein wunderschönes idyllisches Tal. Die breite Schotterstraße teilen wir mit einigen Wanderern. Wir bleiben immer wieder stehen und schauen ringsum. So sehr beeindruckt uns die hochalpine Landschaft. Irgendwann geht dann die Schotterstraße in einen grobsteinig gepflasterten Weg über. Wir müssen also wieder schieben, und die folgende Passage zum Col de la Seigne sowieso. Dafür tut sich der Blick zum Mont Blanc auf, mit seiner berühmten Gipfelfahne und dem markanten Gletscher. Es taugt uns voll. Genial, mit dem Rad in dieser Umgebung unterwegs zu sein. Die Abfahrt hinunter ins Tal nach Frankreich ist feinste Sahne. Ein wunderbarer, langer Singletrail auf gut gepresstem Untergrund. Biken zum Juchzen, und doch auch etwas anspruchsvoll zum Fahren. Trotz verspätetem Start schaffen wir es leicht bis nach Bourg St. Maurice. Es gehen sich auch jede Menge Schnappschüsse aus, so sehr gefällt uns die Landschaft und das Glitzern der nassen Felsplatten in der Sonne. Oder die Vielfalt der Bergblumen, und das Schattenspiel der Wolken auf den Schneefeldern der Talflanken. Wunderbar, und meist auch ein Staunen mit offenem Mund.
Col de l'Iseran - Gewinn der Bergwertung
Beim Frühstück erkundigen wir uns, ob das Biken im Parc national de la Vanoise wirklich verboten ist. Denn da wäre unsere geplante Route durchgegangen. Im Reiseführer war diese Gegend als fantastisch beschrieben. Doch es wird uns davon abgeraten. Es gäbe rigorose Kontrollen und hohe Strafen. Also bleiben wir auf der Hauptstraße und tingeln nach Val d’Isere hoch, und weiter zum Pass. Mittags finden wir einen wunderbaren Platz auf einer frisch gemähten Bergwiese. Das französische Baguette und der Käse mit Tomaten schmecken uns ausgezeichnet. Es ist danach fast etwas mühsam, wieder in den gewohnten Tritt zu kommen.
Irgendwann auf der Hälfte zum Pass überholt uns ein Rennradfahrer. Kurz danach folgt ihm ein deutsches Auto mit mehreren Rädern am Dach. Während wir kräftig strampeln, gibt es bei den Deutschen einen Fahrerwechsel. Der Radfahrer wird zum Autofahrer und einer der zwei anderen Mitfahrer wechselt aufs Rad. Dieses Spiel wiederholt sich dann noch ein weiteres Mal. Wir staunen ob unserer nördlichen Nachbarn und meinen, dass wir da gegenhalten wollen. Also erhöhen wir unser Tempo und geben kräftig Gas. Auch ein nochmaliger Fahrerwechsel bei den Rennradlern nützt ihnen nichts, erhöht nur unseren Puls. Wir gewinnen klar die Bergwertung am Col de l’Iseran. Für das Foto auf der Passhöhe auf 2.770 Meter nehmen wir uns dann etwas Pause. Unsere hochroten Köpfe sollen dafür erst wieder Normalfarbe annehmen können.
Die Abfahrt hinunter ins Tal geht selbst auf den Bikes mit den breiten Stollenreifen ziemlich rasant. Wir genießen es, mal ganz lang nur Rollen zu können. Und ein Genuss ist auch der Besuch einer Bäckerei bei einer Ortschaft am Weg. Ohne leckeres kleines Törtchen will Dana nicht weiterfahren. Weil auf so etwas habe sie nun schon lange genug verzichten müssen.
Bei der Suche nach einem Hotel muss ich dann kräftig lachen, als ich vor dem Gebäude stehe. Ein Schild bei der Ortseinfahrt hat mich zum Abbiegen von der Hauptstraße verleitet. Offensichtlich habe ich nur Hotel gelesen, denn auf dem Schild war auch noch „de Ville“ angeschrieben. Ja, so kann es einem gehen, endorphinetrunken vom Biken gehen die wenigen Französischkenntnisse leicht verloren. Oder sie sind am Pass oben hängen geblieben, dessen Abfahrt wir gerne nochmals gemacht hätten, weil sie so schön war. Die beiden älteren Franzosen am Hauptplatz belustigt es ebenfalls, als ich auf das Schild „Hotel de Ville“ deute, und grinsend erkläre, dass wir auf der Suche nach einem Hotel seien.
Col de Montgenèvre - Gewitterregen und Badewannengespräch
Nach Modane finden wir ein feines Tal zum Hochfahren. Bei der letzten Ortschaft tut sich ein wunderbarer Singletrail auf. Es ist ein Wanderweg zu einem Passübergang. Wir können ihn schon von weitem erkennen. Der schmale Weg schlängelt sich mit einem leichten Auf und Ab das Hochtal entlang. Es ist ein absoluter Fahrgenuss, Biken vom Feinsten. Und absolut fein ist auch das Liegen in der Wiese oben am Pass, mitten in duftenden Blumen und dem entfernten leisen Murmeln eines kleinen Baches. Hey, das Leben ist schön, denken wir uns, und machen ausgiebig Pause.
Kurz vor Montgenèvre holt uns dann im Aufstieg ein Gewitterregen ein. Obwohl wir kräftig in die Pedale treten, schaffen wir es nicht, trocken oben anzukommen. Es waren zu viele Serpentinen, und unsere Beine waren auch schon etwas müde. Wir sind beide froh, dass wir im Hotel Valerie unterkommen. Denn zwischenzeitlich friert es uns beide sehr. Doch mit der durchnässten Kleidung machen wir nicht den besten Eindruck im Hotel, obwohl dieses selbst auch schon reichlich in die Jahre gekommen ausschaut. Die Besitzerin wirkt etwas eigen, als sie uns mit recht harschem Ton die Zimmerschlüssel aushändigt. Während ich danach für unsere nassen Radlersachen eine Wäscheleine kreuz und quer durch den Wasserdampf in unserem kleinen Zimmer im englischem Stil spanne, ahmt Dana das Gespräch mit der Hotelinhaberin nach. Ich höre sie, wie sie in der Minibadewanne die Konversation an der Rezeption wiederholt. Lustig, und zum Kugeln. Mit dem heißen Wasser kommen also auch wieder Danas Lebensgeister und die gute Laune zurück. Wir sind beide zufrieden mit dem Tag. Unsere Biketour durch die Westalpen entlang der Grenze zwischen Frankreich und Italien war bisher ziemlich cool.
Mont Chaberton - Unfahrbare Piste und feines Rifugio
Zum Frühstück schmecken die Croissants ausgezeichnet. Wir müssen schmunzeln, als die Hotelinhaberin sie uns mit dem am Vorabend erlebten Tonfall serviert. Und wie wir dann auf unsere Räder steigen, hält das breite Strahlen und die gute Laune weiter an. Es ist ein wunderbarer Sommermorgen. Etwas frisch zwar, nach dem Regen der Nacht, doch tiefblau und mit klarer Luft.
Wir haben uns für heute den Mont Chaberton vorgenommen. Auf Radfahren eingestellt, müssen wir unseren Plan schnell wieder ändern. Denn je näher wir zum Bergfuß kommen, desto klarer wird uns, dass da rauf mit Fahren nichts geht. Schon weit vor einer Passschulter müssen wir auf dem steilen, losen Bergweg unsere Räder schieben. Und bei der Schulter auf 2.700 Meter angekommen, setzt sich der Weg in ähnlicher Weise nochmals so weit zum Gipfel fort. Dafür gibt es dann oben einen genialen Rundblick, und die Reste eines alten italienischen Forts zu bestaunen. Der Blick auf mein Garmin-Navi zeigt, wir haben wohl gut 2 Stunden an die 1.000 Höhenmeter steil bergauf geschoben.
Die Abfahrt erweist sich dann ebenso abenteuerlich. Nach Fenils, ins Italienische hinunter, lässt sich manchmal nur erahnen, wo einmal die Militärstraße verlaufen sein könnte. Auch näher zum Dorf kommend ist der Weg immer noch total grobschottrig und wild ausgewaschen. Na ja, wir waren wohl oben, auf diesem geschichtsträchtigen Berg. Doch als ideal für eine Biketour geeignet können wir ihn sicher nicht beschreiben. Da hat es uns in der Abfahrt zu sehr durchgerüttelt, und haben wir im Aufstieg zu sehr geschwitzt, und zu lange geschoben.
Nur je weiter wir vom Berg wegkommen, desto versöhnlicher werden wir wieder mit ihm. Denn von der Ferne ist er ziemlich hübsch anzuschauen. Pyramidenartig dominiert er imposant die Landschaft und macht mächtig Eindruck. Beim Blick zurück von den Almwiesen und den Trails rund um Lago Nero und Rhuilles lässt sich auch nicht erahnen, welche Mühen mit Aufstieg und Abfahrt beim Mont Chaberton verbunden sind.
Abends finden wir ein tolles Refugio. Im Fontana del Thures bekommen wir einen Extratisch. Sie kochen fein für uns auf. Dass wir zur Pasta auch noch Nachschlag haben wollen, sehen sie uns gleich mehrmals an. Und nach so einem Tag schmeckt alles köstlich. Erst spät finden wir den Weg in unsere Stockbetten.
Monte Viso - Königsetappe und wieder langes Schieben
Der Weg zum ersten Pass an diesem Tag, dem Col Mayt, erweist sich als wunderbar. Bei strahlendem Sommerwetter fahren wir durch ein herrliches Tal. Entlang eines Flusses windet sich die Straße gleichmäßig ansteigend hoch. Irgendwann am Vormittag haben wir dann die Baumgrenze erreicht. Es zeigen sich bunte Almwiesen mit einer faszinierenden Flora. So viele verschiedene Bergblumen habe ich noch nie gesehen. Wir sind beide total fasziniert. Wir genießen die Tour und die Abgeschiedenheit im Aufstieg. Die beiden schweren Jeeps, die weiter unten in der Bachfurt die Offroadqualitäten austesten, haben wir längst wieder vergessen. Freizeitvergnügen sind halt sehr individuell. Auch mit Autos kann man in die Berge fahren. Doch sie auf Wanderwegen zu bezwingen geht zum Glück nur mit den Bikes.
Die Abfahrt nach Abries ist erste Sahne. Ein wunderbarer Trail, der in einer Forststraße weiterführt und sich durch Lärchenwälder zieht. Wirklich fein. In einem Cafe am Dorfplatz machen wir Halt. Wir stärken uns für den zweiten Teil des Tages. Da geht es zur Monvisohütte, und dann zum Passo Vallanto und Passo di Losetto.
Der Beginn ist angenehm zum Fahren. Die Monvisohütte ist stark frequentiert und es sind viele Wanderer am Weg. Doch danach trennt sich die Spreu vom Weizen. Es sind jetzt nur noch Dana und ich mit den Bikes am Weg. Und wir sind natürlich wieder am Schieben. Grobblockig, brüchig, plattig, nass, schottrig, steil und unwegsam, so zeigt sich uns der Anstieg zum Pass mit Blick auf den mächtigen Monte Viso. Manchmal meinen wir, dass wir wohl auf einer Route der Steinböcke am Weg sind, die sich ringsum in kleinen Rudeln zeigen. Wir staunen, wie mühelos die sich in diesem Gelände bewegen können. Wir dagegen kommen nur ganz langsam voran. Das Schieben ist ganz schön anstrengend.
Der breite Übergang am Passo Vallanto ist schneebedeckt. Wir sind unsicher, an welcher Stelle wir gut weiterkommen, oder wo wir weniger tief im Schnee einsinken. Doch bald schauen wir staunend und fasziniert ins Tal auf der anderen Seite. Nebelfetzen ziehen hoch, machen dicht, oder geben den Blick frei, steigen aus kleinen Bergtümpeln auf, oder decken sie zu, scheinen in die Weite zu mäandern, oder sich an Bergflanken zu schmiegen. Ein Ambiente, das uns sprachlos macht. So schön finden wir die Landschaft da heroben. Auf Felskuppen zeigen sich die schwarzen Konturen der Steinböcke im Gegenlicht. Mit ihrem spitzen Geweih scheinen sie den Nebel zu schneiden. Und wir sind mitten drin, und suchen den Weg auf dem feinen Singletrail, der um Bergkante und Bergkante endlos weitergeht. Als wir dann endlich die Agnel-Passstraße erreichen, fängt es schon langsam an einzudunkeln. Wow, war das eine tolle Etappe. Die weitere Abfahrt kürzen wir dann ab. Wir wollen nicht ganz ins Tal abfahren. Schon in Pontechianale suchen wir ein Hotel.
Valle Maira - ein aufregender Tag mit Überraschungen
Der Tag beginnt mit der Fortsetzung der langen Abfahrt vom Vortag. Bis Sampeyre rollen wir auf der Hauptstraße in der kühlen Morgenluft dahin. Auf dem folgenden Anstieg zum Colle die Sampeyre begleiten uns ein paar Fliegenschwärme. Sie lassen nicht locker und machen uns den Anstieg schwer. Sie umschwärmen uns wie Kühe. Und sie nutzen es scheinbar aus, dass wir keinen Schwanz haben, mit dem wir sie vertreiben können. Nur die Höhenluft scheint ihnen mehr Beschwerden zu machen als uns. Denn je näher wir zum Pass kommen, desto weniger können auch die Fliegen mithalten. Irgendwann sind sie dann wieder weg. Was bleibt ist ein abwechslungsreicher Singletrail hinunter ins Valle Maira. Wegen Felsrutschungen ist die folgende Bergstraße für andere Fahrzeuge gesperrt. Nur Radfahrern ist ein Passieren möglich.
Bei der Abfahrt wundere ich mich über ein komisches Geräusch. Ich kann es vorerst gar nicht zuordnen. Ich schaute zu Danas Rad hin, doch das schien ok. Und auch bei meinem schien alles gut zu sein. Nur beim Hinterrad machte sich eine ungewöhnliche Ausbuchtung breit: Der Schlauch quoll langsam als Blase größer werdend zwischen Reifen und Felge hervor. Schnell ließ ich Luft ab. Doch an ein Weiterfahren war nicht mehr zu denken. Der leichte Racing-Ralph von Schwalbe hatte einen Riss abbekommen, wahrscheinlich vom Vortag irgendwo beim Schieben oder Anecken an den Steinen. Welch unangenehme Überraschung. Mitten im Nirgendwo ein Defekt, für den wir kein Material dabei haben. Einen Schlauch als Ersatz hatten wir sehr wohl dabei, doch keinen Reifen. Also schob ich mein Rad mal weiter, zur Abwechslung nicht aufwärts, sondern abwärts. Und wir überlegten, wie wir zu einem neuen Reifen kommen und den Tag fortsetzen können. Dana wollte dafür ins Tal abfahren und sich in der ersten Ortschaft dazu erkundigen.
Während ich missmutig mein Rad mit fast plattem Hinterrad abwärts schob, holten mich zwei andere Radfahrer ein. Es war ein Ehepaar aus München. Anna, eine Norwegerin, und Louis, ein Franzose. Ich schilderte ihnen mein Missgeschick. Und Anna insistierte dann nachhaltig bei ihrem Mann, wie sie mir helfen könnten. Die beiden machten Urlaub im Valle Maira. Ihr Hotel wurde von einem Bikeguide geführt. Und den rief Louis dann an und fragte um einen Ersatzreifen. Und weil Alessandro das bejahte, unterstützen sie mich weiter, dahin zu kommen. Louis fuhr mit seinem E-Bike vor zum Hotel. Er holte dort sein Auto und nahm mich und Dana, die ich irgendwann wieder am Weg traf, mit zu ihrer Unterkunft Le Marmotte. Wir wollten dann gleich dort bleiben und unsere geplante Tour nur geringfügig abgeändert von dort fortsetzen. Das Marmotte war ganz gediegen, und vor allem: Mein Hinterrad konnte repariert werden.
Freudestrahlend wurden wir im Hotel vom Chef willkommen geheißen. Alessandro meinte, wir sollen uns zuerst stärken. Das Reparieren könne warten. Doch als es dann in seine Werkstatt ging, erwies sich der vermeintlich vorrätige Reifen nur als Schlauch. Beim Telefonat mit Louis war dieser Unterschied wegen sprachlicher Verständigungsschwierigkeiten offensichtlich untergegangen. Doch ein anderer Gast wusste Rat. Er erwartete den Besuch seines Bruders zum Abendessen. Und dieser brachte mir aus Turin einen neuen Racing-Ralph in der gewünschten Größe mit. Da musste ich kräftig staunen, welche Geschichte und Hilfsbereitschaft sich aus einem kleinen Riss im Reifen entwickeln kann. Also im Valle Maira und dem Le Marmotte mit seinen Gästen ist man jedenfalls gut aufgehoben. Und eine leckere Küche haben sie noch dazu. Toll, welche Überraschungen dieser Tag für uns brachte. Ein Freund von Alessandro verstand es dann noch ganz geschickt, das Schaltauge bei Danas Rad neu auszurichten. Es hatte beim Schieben am Vortag ebenfalls ein paar Rempler abbekommen und war verbogen. Ohne Werkzeug konnten wir da unterwegs nichts ausrichten.
Acceglio - Militärstraße in grandiosem Ambiente
Mit Alessandros Empfehlungen als Bikeguide zur weiteren idealen Route war es ein Leichtes, den Weg auf die Gardetto-Hochebene zu finden. Entlang von schönen Lärchenwäldern, Almwiesen und vielen hohen Felszacken war der Anstieg ein angenehmes Biken. Nur die alte Militärstraße danach war äußerst ruppig. Mit etwas Schieben und wegen der Sommerhitze in der Steinwüste ringsum auch reichlich schwitzend erreichten wir den Passo di Rocca Brancia auf 2.600 Metern Höhe. Die folgende 1.000 Höhenmeter lange Singletrailabfahrt ins Valle Stura war durchaus anspruchsvoll. Im hohen Gras war die richtige Spur manchmal nur schwer zu finden. Doch das landschaftliche Ambiente war wunderbar. Und wir hatten ja zwischenzeitlich schon reichlich Routine aufgebaut, auch mit schwierigeren Trailverhältnissen gut zurecht zu kommen.
Sambucco - Kurzusflug nach Frankreich und Baden in Italien
Auf die heutige Etappe war ich besonders gespannt. Ein Freund von mir war hier schon mal mit dem Bike am Weg, und hat schwärmerisch davon erzählt. Und auch uns hat dieser Tag sehr gefallen. Wir machten zuerst auf Asphalt, dann auf einem ruppigen Almweg, und später auf einem Bergweg mit zahlreichen Serpentinen Höhenmeter um Höhenmeter Richtung Col de la Lombarda. Im französischen Wintersportort Isola 2000 hielten wir uns gar nicht lange auf. Wir wollten zum Basso del Druos und ins magische Valle di Valasca.
Obwohl wir einen großen Anteil des Weges schieben mussten, genossen wir den Anstieg sehr. Und Dana sowieso. Für sie war das Schieben entspannender als das Sitzen am Bike. Das hörte ich sie schon ziemlich am Anfang der Tour mal zu mir sagen. Ich hingegen gab dem Fahren den Vorzug. Ich kam mit meinem Sattel besser zurecht als sie mit ihrem.
Immer wieder zeigten sich kleine Bergseen, idyllisch in sanfte Bergmulden eingebettet. Und von weiter oben hatten wir dann den Blick auf alle zusammen frei. Genial, die unterschiedlichen Formen und Farben. Doch je näher wir zum Pass kamen, desto schwerer taten wir uns mit der Orientierung. Es zogen ein paar Nebel auf. Und mit dem Wind war es auch gleich spürbar kälter. Am Basso del Druos war zum Glück der Nebelspuk vorbei. Es gab freie Sicht nach allen Seiten, und ein tolles Gefühl dazu.
Die Abfahrt ins Valasca-Tal war etwas heikel, weil am Anfang ziemlich holprig. Doch auch auf der italienischen Seite des Bergkammes gab es eine faszinierend bunte Landschaft und feine Seen. Und bei einem musste Dana reinspringen. Das geht ja gar nicht, bei so schönen Seen einfach nur vorbei zu radeln. Temperaturmäßig überlegten wir kurz, ob vielleicht der nächste See weiter unten wärmer sein könnte. Denn wir erschraken nämlich sehr bei einem ersten Plantschen mit der Hand. Doch es war windstill, die Sonne wärmte, wir waren allein am Weg, das Wasser glitzerte, der Himmel war blau, das wenige Gras am Ufer erfrischend grün, und die gute Laune luftig höher als alle Berge um den Talkessel herum. Unser kurzes Eintauchen in die kristallene Zauberwelt mitten in den Bergen feinste Sahne. So lässt es sich leben und biken, in Frankreich und Italien. Genial, diese Etappe, und diese Umgebung, und ich mit Dana mittendrin. Dieser Tag hat uns sehr gefallen.
Entraque - verwunschenes Tal und feiner Trail
In Entraque wären wir am Morgen fast nicht weitergekommen. Der Weg durch die Stadt wurde fast zur Falle. Denn wir entdeckten ein Geschäft ums andere, das mit Köstlichkeiten anlockte. Uns lief das Wasser im Munde zusammen. Hier bleiben und sich und den Magen verwöhnen? Lecker essen und die Beine hochlagern? Einkaufen und für zu Hause was mitnehmen? Markttreiben genießen und die Radschuhe an den Nagel hängen? Wir entschieden uns für ein bisschen von allem, und hatten stadtauswärts jedenfalls einen schwereren Rucksack als davor.
Unsere Route ging einem Bach entlang durch ein langes Tal. Immer wieder zeigten sich Gumpen mit kristallklarem Wasser, oder kleine Wasserfälle mit schäumender Gischt. Der Weg war ein Wiesenweg, anfangs ohne große Steigung. Die holte uns danach dann ein, als wir wieder schieben mussten. Doch wir waren für jede Anstrengung gerüstet. Denn das Hochgefühl vom Vortag und der morgendliche Einkauf mit feinem Käse und Brot aus dem Steinofen gaben uns mächtig Auftrieb. So schafften wir locker den Anstieg auf die Hochebene. Wir genossen die schon stärker südlich geprägte Landschaft. Die Aussicht von oben war grandios. Und das flowige Fahren mit nur leichtem Auf und Ab danach war es ebenso. Das Fahren hinunter nach Limone Piemonte ging uns dann fast zu schnell. Denn oben in der Höhe hat es uns sehr gefallen. Das war wunderbar.
Limone Piemonte - Ligurischer Grenzkamm und ein fataler Platten
Wir fahren einen Teil der Nordrampe vom Colle di Tenda vom Vortag wieder hoch. Oben angekommen waren wir dann nicht mehr allein am Weg. Es war Wochenende, und der Ligurische Grenzkamm lockte auch Endurofahrer mit ihren Motorrädern an, oder Autoausflügler mit ihren Jeeps. Auch einige E-Biker waren unterwegs. Das war besonders lustig anzusehen, wie die E-Biker bei einer Hüttenrast am Weg alle ihre langen Kabel auspackten und verzweifelt nach Steckdosen suchten.
Doch die Landschaft ist sehr weitläufig und es gibt viele verschiedene Routen. Wir fanden schnell wieder die gewohnte Umgebung, nämlich eine, in der sonst niemand mehr am Weg ist. Es ist unsere vorletzte Etappe. Das Grande Finale in Ventimiglia haben wir für den morgigen Tag geplant. So genießen wir den Tag und die Aussicht Richtung Süden. Hinter den vielen bewaldeten Taleinschnitten meinen wir, schon das Meer erkennen zu können. Oder es vielleicht auch schon zu riechen. Denn die Luft roch irgendwie anders als in den Bergen an den Tagen davor.
Etwas lästig war nur der viele Staub, wenn uns hie und da ein paar Autos auf der schottrigen Piste passierten. Doch wir kamen gut voran. Es waren nur noch an die 10 Kilometer bis zum geplanten Etappenziel. Plötzlich gab es einen lauten Knall und meine Fuhre stand. Der Hinterreifen war wieder platt. Nicht nur der Schlauch war hin, weil aufgeplatzt, auch der Reifen hatte einen langen Riss. Puhh, gerade erst vor ein paar Tagen neue Sachen montiert, und jetzt das. Voll zerstörtes Gummimaterial am Hinterrad, keine Ahnung wieso. Ein Weiterfahren war unmöglich. Ich probierte noch ein paar Hundert Meter weit das Rad zu tragen, doch es machte keinen Spaß. Die Schulter schmerzte. Dana schlug vor, es doch mit Autostoppen zu versuchen. Nur kaum war der Vorschlag genannt, kam die längste Zeit keines mehr daher. Und von den nächsten zwei hatte das erste wohl schon fünf Kinder am Rücksitz. Und beim zweiten wollte der Fahrer gar nichts verstehen, oder ich konnte mich ihm gegenüber nicht klar genug artikulieren. Unsere Laune war am Boden, und wir waren beide merklich gereizt.
Nur wenn ich beim letzten Patschen schon viel Glück zur Rettung hatte, so hatte ich dieses Mal fast noch mehr. Irgendwann kam nämlich ein kleiner Suzuki-Jeep daher. Die beiden jungen Leute erkannten gleich die Lage und wussten Rat. Der Fahrer funkte seinen Freund an, der uns einige Zeit vorher schon passiert hatte. Es war ein Pickup, und auf den haben sie dann unsere beiden Räder verstaut. Dana und ich fanden auf der Rückbank im Suzuki Platz.
Und so rauschten wir als Auto-Duett jene verwinkelte staubige Straße hinunter, die sie bei der Montecarlo-Rally als Sonderprüfung normalerweise hochfahren. Das Tempo der beiden Italiener war wohl ähnlich wie bei der Rally. Der Fahrer verneinte zwar, dort mitzufahren. Er verwies nur darauf, dass er beim Roten Kreuz als Rettungsfahrer arbeite. Entsprechend oft war er auch am Hupen. Vor jeder Kurve statt Bremsen ein akustisches Signal, und schon driftete der kleine Jeep um die Ecke, mit dem Pickup hinten im Schlepptau. Und wenn mal was entgegenkam, so waren seine Handzeichen eindeutig: Der andere musste weichen. Ich meinte, dass bisher unser Biken abenteuerlich war. Doch unsere „Rettungsfahrt“ hinunter nach Ventimiglia war es auch. Und damit wir nicht erst lange nach einem Hotel suchen müssen, organisierten sie uns eines schon gleich auf der Fahrt.
Ein kostenloser Shuttledienst von der Ligurischen Grenzkammstraße bis vor den Hoteleingang am Meeresstrand. Und dann gar noch einen Tag früher ankommen als geplant. Dass so etwas möglich ist, wäre uns beim Start der Etappe am Morgen jedenfalls nicht in den Sinn gekommen. Also Sachen gibt’s beim Biken, kaum zu glauben. Und kaum zu glauben war für uns auch, wie laut es in der Nacht in Italien zugehen kann. Wir waren jetzt 2 Wochen auf einsamen Pfaden zufrieden in den Bergen am Weg. Das plötzliche laute Remmidemmi hier am Meer war jetzt ein gänzlich ungewohnter Kontrast.
Ventigmiglia - ein Tag am Strand und eine Bahnhofshalle zum Nachdenken
Den letzten Urlaubstag nutzen wir zur Erholung und zum Baden im Mittelmeer. Und auch noch für das Kaufen eines neuen Reifens. "Kenda, best quality" hat ihn mir der Radhändler angeboten. Er konnte da wohl auch noch nicht wissen, dass mir dieser Reifen 2 Wochen später bei einer heimischen Tour nach Liechtenstein ebenfalls geplatzt ist. Und nicht bekannt ist ihm daher auch mein weiteres Glück bei solchen Sachen daheim. Eine Familie aus Liechtenstein, die nach Feldkirch zum Einkaufen fuhr, hat mich autostoppend mitgenommen. Sie haben den platten Reifen am von mir talwärts geschobenen Rad gesehen, und mich dann gleich bis vor die Haustüre daheim gebracht. Unglaublich.
Die uns am Strand in Ventimiglia angebotenen Sonnenbrillen, Uhren, Armbänder oder Ledertaschen wollten wir nicht kaufen. Der Verkäufer in seinem bunten Outfit hat sie uns auf seinen ganztägigen Runden gleich mehrfach angeboten. Uns fehlte nur noch ein Ticket zurück nach Hause. Und das wollten wir am Bahnhof besorgen. Dort holte uns dann schlagartig eine andere reale Welt wieder ein. Es gibt nicht nur das feine Biken in wunderbarer Landschaft, sondern auch Menschen, die kein Zuhause haben, und nach einem solchen suchen. Am Bahnhof in Ventimiglia waren sie anzutreffen. Und als wir am nächsten Tag um 5 Uhr früh in den Zug einsteigen, begleitete mich das Bild aus der Bahnhofshalle noch lange mit. Dicht gedrängt lagen da viele junge Menschen schlafend am harten Steinboden. Sie waren wohl aus Afrika stammend in Italien mit Weiterkommen gestrandet. Solche Bilder kenne ich aus Vorarlberg nicht. Damit ganz unerwartet konfrontiert zu werden, war für mich bedrückend.
Die Tour von Montreux nach Ventimiglia war phantastisch. Feines Biken, wunderbare Landschaft, tolle Übergänge, faszinierende Bergwelt, sportliche Challenge, Glücksgefühle noch und noch. Ich bin dankbar für die Fülle der Eindrücke und Impressionen. Und dankbar bin ich auch für das bereichernde Miteinander mit Dana zu zweit.
Das bedrückende Bild aus der Bahnhofshalle in Ventimiglia am letzten Tag macht mir jedoch bewusst, dass nicht alle Menschen sonnseitig im Leben am Weg sind. Das nehme ich mir vor, in Erinnerung zu behalten, als weiterführenden Gedanken von dieser Tour. Und dass ich hoffentlich nicht vergesse, anderen Menschen versuchen zu helfen, bei deren harten Patschen im Leben.