Eine Ecke Russlands

14. Oktober 2019

Welcome to Russia

Nach einem feinen Frühstück starte ich bei 3 Grad die kurze Fahrt hinunter durch das enge Tal bis zur Grenze. Schon weit davor stehen die Lastautos Schlange. An der Grenze schaut es zuerst so aus, als ob es flott geht. Alle sind freundlich. Eine Frau stempelt in ihrer kleinen Kabine meine Papiere ab. Doch kaum ist sie damit fertig, beginnt das Warten. Man spricht mich mit Vornamen an: Helmut, please sit down. Helmut, please wait 5 minutes. Helmut, we check some things. Ich warte und warte und es passiert nichts. Doch während dieser Zeit fertigen sie auch nicht sehr viele Autos ab. Man braucht bei diesem Grenzübergang offensichtlich viel Zeit.

 

Ich schaue zu, wie sie die Autos kontrollieren. Es müssen alle aussteigen. Dann erfolgt die Passkontrolle. Danach lassen sie oft alle Koffer ausladen. Ich staune, wie viel Gepäck manche mitführen. Ein paar Autos sind rammelvoll, von der Rückbank bis zum Kofferraum. Dann komme endlich ich an die Reihe. Mit einer Taschenlampe leuchten sie meine Radtaschen aus. Großes Interesse am Inhalt haben sie nicht. Es geht eher nur darum, dass ich mal alles aufmache. Danach darf ich wieder warten. Helmut, please sit down. Sie weisen mir eine kleine Bank neben dem Fahrrad zu. So vergeht wieder einige Zeit. Dann holt mich ein junger Beamter ins Gebäude. Helmut, please come with me. Er nimmt ein Protokoll auf. Er fragt auf Englisch nach Tätigkeit, Bildung, Wohnort, Frau und Kindern. Obwohl ich meine Antworten kurz halte, tippt er unendlich viel Text auf seiner Tastatur. Irgendwann kommt er dann auf meine Route zu sprechen. Das imponiert ihm, und er lässt sich etwas ablenken. Auch meint er, dass die russischen Männer in meinem Alter nicht mehr so großen Sport betreiben würden, oder können. Doch die Fragerei geht weiter. Er macht seinen Job auf freundliche, jedoch bestimmte Art. Zum Schluss will er noch die IMEI-Nummer meines Telefons wissen. Geduldig erklärt er mir, dass ich sie mit *#06# abrufen kann. Wofür das Ganze sein soll, ist mir nicht klar. Am Abend lese ich dann etwas über den Kaukasus und die Gegend dort. So eine ganz friedfertige Umgebung scheint es nicht zu sein. Wahrscheinlich sind die Kontrollen auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Jedenfalls verbringe ich wohl mehr als eine halbe Stunde in dem kleinen fensterlosen Raum, bis der Beamte sein Protokoll fertig hat und er es seinem Vorgesetzten gezeigt hat. Dann kann ich endlich gehen. Sie wünschen mir noch eine gute Weiterfahrt.

 

Am Morgen war es beim Warten im Schatten an der Grenze recht frisch. Beim Weiterfahren um halb 12 Uhr scheint dann die Sonne. Ich fahre bis Vladikavkaz. Das ist der erste Ort nach der Grenze. Ich will Geld wechseln und suche nach einen Bankomaten. Doch es gibt keine Sprachauswahl. Die PIN-Eingabe schaffe ich noch, doch danach stehe ich an. Die kyrillische Schrift ist mir leider nicht geläufig. Ich frage eine Frau in der Nähe, ob sie mir behilflich sein kann. Nur kann sie wiederum mit meinem Englisch nichts anfangen. Also hilft mir nur Zeichensprache und etwas Pantomime, bis ich meine Geldtasche mit den ersten Rubelscheinen füllen kann. Der Start in Russland war also ziemlich spannend.

 

Für die Weiterfahrt nach Norden wähle ich die große Hauptverbindung. Auf der flachen Straße komme ich gut voran. Irgendwann habe ich dann die Idee, dass ich gar bis zum nächsten großen Ort fahren könnte, der immer wieder angeschrieben ist. Ja, und so kurble ich am Nachmittag kräftig in die Pedale und mache Kilometer. Die Straße ist breit, gut asphaltiert, und hat teilweise auch einen Seitenstreifen. Es gibt Alleebäume über viele Kilometer, oder auch Apfelplantagen ebenso lange. Erst kurz vor dem Dunkelwerden schaffe ich es in die Stadt. Mit ein paar Mal nachfragen finde ich dann im Dunkeln ein Hotel. Für den letzten Kilometer habe ich erstmals die mir in der Türkei geschenkte gelbe Signalweste angezogen. Es war mir nicht ganz geheuer, im russischen Stadtverkehr ohne große Straßenbeleuchtung nur mit meinem Fahrradlicht unterwegs zu sein. Unter der Dusche bin ich richtig erleichtert, dass es mit dem Hotel geklappt hat. Denn für eine Zeltplatzsuche wäre es schon reichlich spät gewesen. Ich schaue mir dann noch meine Fotos an. Ich denke, dass es ein aufregender erster Tag in Russland war. Die Grenzkontrolle werde ich später nachfragen. Keine Ahnung, ob das immer so ist, oder nur bei Fahrradfahrern, oder weil Krisenregion Kaukasus. Dass ich unterwegs den imposanten Kasbek auch von der anderen Seite bewundern konnte, das hat mich jedenfalls besonders gefreut. 

 

 

15. Oktober 2019

Einchecken auf russische Art

Obwohl ich zeitig aufbreche, kann ich die warmen Sachen schon nach den ersten Kilometern wieder ausziehen. Die Sonne wärmt fein. So schwimme ich bei angenehmen Temperaturen im etwas hektischen Frühverkehr raus aus der Stadt. Die Kaukasus-Berge habe ich den ganzen Tag im Blick. Die schneebedeckten Zacken und Gipfel anzuschauen ist einfach toll. Und mit der Sonne und dem Kontrast zum flachen grünen Land in der Ebene kann ich mich kaum satt sehen. Irgendwann sticht dann ein markanter weißer Berg aus der Gebirgskette hervor. Ich bleibe bei einem Lastwagen mit Bienenkästen stehen und mache ein Foto. Als ich auf den Berg zeige, erklärt mir der Imker sichtlich stolz, dass es der Elbrus sei. Beim Gehen schenkt er mir in einer kleinen Plastikbox etwas Honig in der Wabe. Farblich passte das Goldgelb des Inhalts gut zu seinen Zähnen, von denen gar viele ebenfalls goldgelb glänzten.

 

Zum Übernachten wähle ich in Mineralnyje Wody ein Hotel an der Straße. Beim Einchecken bin ich dann ziemlich perplex. Am Vortag reichte das Aushändigen der Rubel, doch hier wird ein erheblicher Aufwand für meine angeblich erforderliche Registrierung in Russland getrieben. Ich muss meinen Reisepass zeigen. Dann werden alle Daten aus dem Pass abgeschrieben und wohl in irgendeiner Datenbank erfasst. Mehrmals wird der Pass durchgeblättert. Es schaut so aus, als ob der Mann an der Rezeption auch noch die vielen Stempel kontrolliert oder sie notiert. Dann erstellt er eine Passkopie. Danach bekomme ich einen Zettel als Bestätigung der Registrierung. Das sei so vorgeschrieben, erklärt er mir, und es werde auch beim nächsten Hotel so der Fall sein. Ich wundere mich zwar, doch füge ich mich den Formalitäten. Und über mich selbst staune ich auch. Denn bei solch unsinnigen Sachen raste ich normalerweise aus. Überall anders hätte ich wohl sofort die Koffer wieder gepackt und trotzig ein anderes Hotel gesucht, oder im Zelt übernachtet. Doch die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Und in Verbindung mit der Tageszeit und der aufkommenden Müdigkeit lasse ich den ganzen Zinnober brav über mich ergehen. Ich respektiere es einfach, wenn jemand seinen Job ordentlich machen will.

 

17. Oktober 2019

Rückenwind und Zuckerrübenbomber

Waren es davor die Berge des Kaukasus, die mich beim Fahren unterhalten haben, so ist es jetzt die große Weite. Doch sie will mir aufs Erste nicht so recht schmecken. Es fehlen die landschaftlichen Reize. Oder auch die Abwechslung beim Fahren. Denn es geht flach dahin, und das eigentlich nur gerade. Nur hin und wieder gibt es ein paar leichte Steigungen. Schon weit vor den Scheitelpunkten im hügeligen Gelände ist jedes Mal zu sehen, dass es wieder viele Kilometer gerade aus gehen wird. Und weil der Elbrus mit seinem Schneegipfel auch nicht mehr sichtbar ist, ist es etwas zäh zum Fahren. Zudem ist der Seitenstreifen jetzt manchmal nur ganz schmal. Bei viel Verkehr ist es eine Herausforderung, nicht ins Kiesbett daneben abzudriften. Ein paar Mal kommen mir Lastautos unangenehm nahe, meist, wenn sie selbst überholt werden. Doch oft hupen sie dann, und ich kann mich darauf vorbereiten, dass es eng wird. 

 

Mittags mache ich bei einer Raststätte Halt. Sie scheint eher nur auf die Bedürfnisse der Lastwagenfahrer ausgerichtet zu sein. Diese scheinen Grillsachen zu bevorzugen. Mir bieten sie als Alternative Salat an. Ich frage noch nach Käse dazu, und bekomme ihn auch prompt: Es ist eine Packung Toastkäsescheiben, die sie mir in der Verkaufsfolie eingewickelt zum Salat und dem Brot auf einem Teller servieren. Andere Länder, andere Sitten.

 

Am Abend ist im Hotel das Prozedere für die Registrierung gleich wie Vortag. Ich erkundige mich und erfahre, dass die gesetzlichen Bestimmungen in Russland so seien. Sie müssen die Passdaten von allen aufnehmen und weitermelden. Im Restaurant bin ich der einzige Gast. Ich bekomme Kartoffelpüree. Ich höre die Köchin, wie sie es in der Küche stampft. Etwas mehr Butter hätte dabei sein können, doch es schmeckt dennoch ganz gut. Selbst gemachtes Püree ist ja eher eine Seltenheit. Und einen feinen süßen Nachtisch gibt sie mir noch dazu. Vielleicht auch deshalb, weil ich ihr Püree gelobt habe. Das Hotel selbst dürfte die besten Zeiten schon vor Jahrzehnten gehabt haben. Es ist reichlich abgewohnt. Die Bettwäsche fühlt sich dennoch angenehm an. Ich schlafe gut.

 

Flach und gerade geht es auf der Straße wieder weiter. Doch ich freue mich. Denn es bläst ein satter Rückenwind. In einer Autowerkstatt lasse ich Luft nachpumpen. Wenn es schon schnell vorwärts geht, dann soll es auch richtig schnell gehen. Der Mechaniker war das Aufpumpen von Fahrradreifen jedoch nicht gewohnt. Er setzte gleich an wie bei den dicken Laster-Reifen. Ich musste ihn stoppen und wieder kräftig Luft ablassen, aus Angst vor einem Platzer.

 

Die Straße war zum Teil neu asphaltiert. Sie hatte einen breiten Seitenstreifen. Mit dem Wind im Rücken und den prall gefüllten Reifen ging es rasant weiter. Das finde ich beim Radeln ziemlich cool, und macht mir richtig Spaß: Wenn ich mit dem Wind am Weg sein kann. Wenn ich fast mühelos schnell dahingleiten kann. Und wenn ich dabei nur das mahlende Rauschen der breiten Reifen höre, und keinen Winddruck von vorne verspüre. Bei solchen Verhältnissen purzeln dann die Kilometer. Dann geht kräftig was vorwärts. Ab mittags wärmte zudem die Sonne fein. Ich fahre in kurzen Sachen. 

 

Der Verkehr ist auf dem heutigen Streckenteil eher mäßig. Es sind nicht so viele Autos am Weg. Radfahrer sowieso nicht. Diese gibt es vereinzelt bloß in den Ortschaften. Ich muss die Straße fast nur mit Lastautos teilen. Manch alter Kamaz ist dabei mit seinem schweren Anhänger in eine schwarze Abgaswolke eingehüllt, wenn er auf die Straße einbiegt oder mehr Fahrt aufnehmen will. Sie haben hier Zuckerrüben geladen. Während des Fahrens fällt mir ein Name für die Autos ein: Ich nenne sie Zuckerrübenbomber. Einzelne Rüben fallen nämlich immer wieder vom Wagen herunter. Denn die Lastautos sind mit ihren Zusatzaufbauten mehr als nur randvoll beladen. Doch das kenne ich schon von den Tagen davor. Da haben sie Mais transportiert, der dann über viele Kilometer bis zu den Lagerhallen den Straßenrand zierte. In den kleinen Ortschaften freute dies auch die Hühner. Die trauten sich dann wegen der knackigen Körner bis zum Seitenstreifen vor, und pickten nicht nur in den Wiesen daneben.

 

Abends freue ich mich über das gewählte Hotel. Es erweist sich als feine Adresse. Es hat schöne Zimmer. Die junge Frau an der Rezeption ist gut gelaunt und sehr hilfsbereit. Wir finden beide Spaß an den Übersetzungsvorschlägen des Google Translaters. Den brauche ich, weil ich auch noch was zum Essen haben möchte. 

 

Später taucht dann unerwartet die Hotelbesitzerin auf. Sie wurde von der Rezeptionistin informiert. So ein Gast wie ich ist anscheinend fürs Advertising auf Social Media sehr willkommen. Autogramm will sie zwar noch keines von mir haben. Nur ein Foto mit Rad vor dem Hoteleingang ist ihr Wunsch. Und sie postet es auch gleich auf Instagram. Ich mache da gerne mit. Denn ein bisschen Austausch und Konversation tun mir gut, als Ergänzung zu den schweigsamen Stunden am Rad. Ihre Tochter ist ebenfalls mitgekommen. Diese macht bald den Schulabschluss. Sie erzählt, welche Sprachen sie am Lernen ist, und das sind mehr als eine Handvoll. Chinesisch sei am schwierigsten. Später will sie mal Ärztin werden. Und bereiste Länder kann sie auch schon mehr aufzählen als ich, wobei sie Österreich ebenfalls erwähnt. Der Mutter hat damals Schönbrunn und das Belvedere gefallen, und die Ringstraße und noch einiges mehr. In Erinnerung ist ihr auch, dass sie in der Oper in Wien ihren 5-jährigen Sohn kurzfristig verloren hat, und ihn verzweifelt stiegenauf und stiegenab am Suchen war. Spannend, denke ich mir, als ich wieder allein im Zimmer bin, welche Kontakte sich im russischen Irgendwo ergeben, und welche Geschichten sich da austauschen lassen.

 

Das Hotel erweist sich mit dem von der Sonne gefluteten Eingangsportal auch am Morgen als ideal. Denn wo lässt sich ein Patschen besser flicken, wenn nicht hier? Ja, tatsächlich war das Hinterrad wieder platt, als ich nach dem feinem Frühstück meine Taschen einhängen und losstarten wollte. Mit Abtasten finde ich einen kleinen, haardünnen Metalldorn. Ich kann ihn mit der Pinzette aus dem Reifen ziehen. Der Rest ist dann wieder Routine: Gummilösung auf den Schlauch, warten bis abgetrocknet, Flicken drauf, kurz pumpen, Schlauch wieder rein, Mantel aufziehen, lang pumpen, weiter pumpen, nachpumpen, Hinterrad einhängen, Rad aufstellen, Hände waschen ... und dann endlich los, auf die gerade Gerade. 

 

19. Oktober 2019

Im Nebel auf der Autobahn

Ich starte früh los. Im Hotel gibt es das Frühstück erst viel später. Doch darauf mag ich nicht warten. Lieber gleich ein paar Kilometer machen und dann irgendwo einkehren. Der Wetterbericht hat Sonne angekündigt. Doch es gibt dichten Nebel. Einzelne Autos fahren gar mit Nebelschlussleuchte. Also ziehe ich zu meinem Schutz die geschenkte gelbe Signalweste an, und staune dabei über mich selber. So ein Ding ist natürlich völlig uncool. Und wer so was anzieht, kann nie und nimmer ein echter Radler sein. Doch mit dem Nebel und dem Verkehr auf den russischen Straßen werde ich einsichtig. Vielleicht ist es doch besser, wenn man mich frühzeitig sieht, und nicht erst wenn es zum Ausweichen zu spät ist. Denn wenn sogar die Russen mit Nebelschlussleuchte bei ihren Autos fahren, dann sind es sicher keine normalen Verhältnisse. Und wieder ausziehen kann ich sie ja jederzeit, sobald es mit dem Nebel etwas besser wird. Solche Argumente gehen mir durch den Kopf, während ich in meiner gelben Signalweste kräftig in die Pedale trete.

 

Der Wasserdampf belegt die Brille. Ich wische mit dem Handrücken immer wieder den Wasserfilm weg. Für die Tropfen am Helm genügt kräftiges Kopfschütteln. Irgendwann kommt plötzlich eine Mautstelle. Selbstbewusst fahre ich zu einer der 12 Abfertigungsstellen. Mehr als zurückweisen können sie mich ja nicht. Doch siehe da: Kreditkarte rein und die Schranke geht auf. Und ein Lächeln der hübschen Russin hinterm Fenster ihrer Kabine gibt es auch noch. Da war ich dann doch etwas überrascht, als Radfahrer ein förmliches Ticket für die Autobahn zu bekommen. Doch so sollte es ja eigentlich auch sein: Gleichberechtigung für alle Verkehrsteilnehmer. Und wenn der Seitenstreifen breit genug ist, dann ist es ein normales Fahren, besser und sicherer als auf jeder Landstraße mit viel Verkehr.

 

Kurz vor mittags fühlt sich das Rad plötzlich schwammig an. Ein Blick nach unten bringt Gewissheit: Hinten verliere ich langsam Luft. Ich entscheide mich fürs Weiterfahren bis zu einer Tankstelle, oder einer Werkstatt. Meist sind die nebeneinander. Und tatsächlich kommt bald eine dieser kleinen Reifenwerkstätten. Dort tauschen sie gerade bei einem Fernlaster die Reifen. Ich baue mein Hinterrad aus und taste es ab. Von außen merke ich nichts. Doch als ich den Mantel von innen abgreife, entdecke ich einen kleinen Metalldraht mit ein paar Millimeter Länge. Er steckt von außen u-förmig im Gummi und ragt nach innen vor. Also Draht rausziehen, Loch flicken, mit Kompressor aufpumpen, und weiter im Nebel. 

 

Nach ungefähr einer Stunde Weiterfahrt stellt sich dieses komische schwammige Gefühl am Rad wieder ein. Ein kräftiges Wippen und die Bestätigung ist da: Patschen Nummer 10 auf der Autobahn nach Rostow. Ich schaffe es gerade noch bis zu einer Ausfahrt. Dort baue ich alle Taschen ab, stelle das Rad auf den Kopf, baue das Hinterrad aus, ziehe den Schlauch raus, und greife den Mantel ab. Einmal in der Mitte rund um geht ohne Widerstand, doch die nächste Runde seitlich lässt mich staunen: Da finde ich tatsächlich wieder ein kleines Stück Metalldraht, diesmal von fast 1 Zentimeter Länge. Obwohl hauchdünn, ist das Drahtstück dennoch fest und steif. Es dürfte von einem Lastwagenreifen stammen. Deren Gummiteile oder Gummireste sieht man immer wieder am Seitenstreifen. Ohne Kompressor geht das Aufpumpen etwas länger. Doch mit immer wieder Abwechseln zwischen den Händen beim Pumpen kriege ich den Reifen ebenfalls satt voll. Mit etwas Zeitverzug schwinge ich mich dann wieder in den Sattel, und reihe mich in die Fahrzeugkolonne ein. Je näher zur Großstadt, desto mehr Verkehr.

 

Im Zentrum von Rostow frage ich mich zu meinem Hotel durch. Beim Buchen dachte ich, dass es ein kleines Haus mit wenigen Zimmern ist. Doch es ist ein riesiger Schuppen, der mehrere Häuserblocks umfasst. Im Zimmer bin ich dann dennoch froh darum. Es gibt nämlich eine richtige Badewanne. Im Nebel war es etwas kühl zum Fahren. Daher ist mir ein Aufwärmen jetzt sehr willkommen. Meine verschwitzten Radsachen nehme ich gleich mit in die Wanne. Dann geht das Waschen in einem. Danach habe ich Hunger. Im Restaurant muss ich beim Buffet nicht lange suchen: Ich wähle Salzkartoffeln mit Butter und Gemüse. Die Kartoffeln schmecken sensationell. Wohl weil ich so etwas nun schon 3 Monate nicht mehr gegessen habe. Ok, denke ich mir beim zweiten Teller, eine kleine Belohnung fürs doppelte Patschenflicken heute darf schon sein. Und dass ich es schon bis Rostow am Don geschafft habe, ist auch eine coole Sache.

 

21. Oktober 2019

Ausflug ins Grüne

Ich starte mit gelber Signalweste. Am Morgen hat es nämlich wieder dichten Nebel. Doch schon bald klart es auf. Zuerst ist es nur auf den Hügelkuppen sonnig. Wenn es wieder runter in eine Senke geht, ist kurz Nebel. Es ist lustig anzuschauen. Auf der Geraden wechseln sich weit bis zum Horizont diese sonnigen und nebeligen Teilstücke ab. Doch irgendwann setzt sich dann feines Herbstwetter durch. Ich fahre mit kurzer Hose. Auf der Straße ist einiges los, oder vielmehr sehr viel. Sonntags haben nämlich alle Russen frei. Da fahren sie ins Grüne, auf der Autobahn. Nur die Lastwagenfahrer müssen arbeiten. Und das natürlich ebenfalls auf der Autobahn. Also ist wohl doppelter Verkehr wie sonst. Doch der Seitenstreifen gehört mir allein. Und so komme ich auch trotz der vielen Fahrzeuge gut und motiviert voran. Landschaftlich gibt es nicht so viel Abwechslung. Die Straße führt irgendwo durch die russische flache Weite. Ortschaften sind keine zu sehen, oder nur ganz wenige entfernt im Nirgendwo.

 

Bei viel Sonne und angenehmer Temperatur geht es heute gleich mit kurzer Hose und ohne Jacke los. Ich entscheide mich für eine Nebenstraße. Denn von der Autobahn bin ich vom Vortag noch satt genug. So fahre ich auf kurviger Straße entspannt durch ein paar Dörfer und genieße den Vormittag. In einem der kleinen Tante Olga-Läden, die es in diesen Ortschaften immer gibt, kaufe ich mir etwas zum Essen. Ich entscheide mich für mein Standard-Menü: Brot, Käse, Tomaten, Gurken, und dazu noch einen Apfel. Zum Trinken gönne ich mir Organgensaft. Weil die Sonne die breite Stiege vor dem Laden fein wärmt, ist sie auch gleich mein Jausenplatz.

 

Das Geschehen rund um diese kleinen Geschäfte ist meist dasselbe. Es kommen Frauen mit wackeligen 24-Zoll-Rädern zum Einkaufen. Aufpumpen und Kette ölen müsste ich bei denen sofort machen, fällt mir jedes Mal dazu ein. Ihre vollen Taschen verstauen sie dann im Korb auf dem Gepäckträger. Wenn Männer mit diesen Fahrrädern kommen, dann fahren sie meist mit einer Plastiktasche mit Brot weg, die sie am Lenker umhängen. Oder sie kaufen auch nur Bier, das sie dann in der Jackentasche verstauen. Wenn Autos vorfahren, dann sind meist zwei Personen drin, Mann und Frau. Während der Mann rauchend im Auto wartet, erledigt die Frau den Einkauf. Oder wenn es eine Frau mit Kind ist, dann muss das Kind an der Hand mit in den Laden. Hie und da entwickelt sich auch ein kurzer Kontakt. Dann steigt der Mann aus dem Auto und kommt rauchend und palavernd auf mich zu. Ich nicke dann und grüße, während er weiterredet und mit wertschätzender Miene aufs Fahrrad zeigt. Wenn ich seine Mimik übernehme und mit vollem Mund ein "Mmh" stammle, dann hängt er oft noch viele weitere Sätze an. Spätestens wenn ich jedoch fertig gekaut habe, kommt von mir ein lächelndes "Avstriya" als ergänzende Zwischenbemerkung. Das ist dann der Übergang zu den Zahlen. Es interessiert ihn die Kilometeranzahl und die Dauer. Das bringe ich auch meist noch rüber, bevor die Frau wieder aus dem Laden kommt. Dann erklärt er ihr, woher ich komme, und noch einiges mehr. Es müssen jedenfalls feine Sachen sein, die er ihr mitteilt. Denn die einkaufsfokussierte und Pflichtbewusstsein ausstrahlende Miene beim Aussteigen wechselt danach beim Einsteigen zu einem freundlichen Lächeln für mich. Beim Wegfahren gibt es meist noch ein kurzes Hupen durch den Mann, und ein Winken von der Frau, und natürlich auch eines von mir. Zumindest ein solcher Tratsch geht sich immer aus, vor jedem Laden. Für mehr müsste ich wohl meine Jausenration erhöhen. Denn die Kundenfrequenz bei diesen Läden ist zu meinen Einkaufszeiten eher gering.

 

Nach wenigen paar Ortschaften und Straßensiedlungen ist es heute beim Fahren aus mit Lustig. Die Straße geht von Asphalt in einen erdigen Weg über, der irgendwo durch die Landschaft führt. Es hat viele und tiefe Spuren. Anscheinend ist dieses Straßenstück auch für Autos nicht sonderlich fein zum Fahren. Denn die Spuren gehen immer wieder kreuz und quer. So holpere ich mit meinem Gefährt wohl gut eine Stunde durch Streuwiesen und Brachland. Ein paar Wildhühner scheue ich auf, doch sonst treffe ich niemanden. Es gibt nur wenige, kleine Holzhäuser. Entweder schauen sie gänzlich verlassen aus, oder sie sind von Kettenhunden bewacht. Wenn es mehrere Häuser sind, dann geht das Bellen von einem zum nächsten über, und begleitet mich einige Zeit. Ich denke dann, dass das Wort Kettenbotschaft seinen Ursprung beim Wort Kettenhund hat. Irgendwann orientiere ich mich wieder anhand der Karte. Ich will wissen wo ich genau unterwegs bin. Ich habe genug von der Holperei. Ich möchte wieder auf die Hauptstraße, und damit auf die Autobahn zurück. So schön ein Ausflug in die wenig berührte Natur auch ist, mehr Kilometer mache ich jedenfalls auf dem Seitenstreifen der Autobahn.

 

Das Straßenstück am späten Nachmittag ist sehr großzügig angelegt. Ein breiter Grünstreifen mit Graben trennt die Fahrtrichtungen. Auch links und rechts von der Fahrbahn ist das Grün gepflegt und kurz geschnitten. Dazu wärmt die Sonne von der Seite fein meinen Rücken. Nach jeder leichten Geländekuppe genieße ich das Rollen hinunter. Das macht mir immer Spaß. Das Gesäß weit nach hinten gestreckt auf dem Rad, kann es abwärts so nicht schnell genug gehen. Bei den folgenden Steigungen mag ich zumindest die Übergänge, also solange ich den Schwung von der Abfahrt gut mitnehmen kann. Nur wenn ich viele Gänge runterschalten muss, dauert es eine Zeit, bis ich den Rhythmus fürs Hochfahren wieder finde. Doch wenn ich frisch bin, passen mir auch diese Passagen. Und wenn sie länger dauern, lenke ich mich mit Überlegungen zur Distanz ab. Entweder zur bereits Zurückgelegten, oder der noch zu Fahrenden. Der Schlüssel zum Finden meiner Zufriedenheit ist dann meist, dass ich mir eine machbare Einheit überlege. Wenn ich sie nicht gleich finde, dann probiere ich es von neuem. Und weil die Straße und der Verkehr auch Aufmerksamkeit erfordern, ist es wie ein langes Nachdenken, das vom monotonen Pedalieren in Schwung gehalten wird. Irgendwann finde ich dann ein mir passendes Rechenergebnis, das ich für leicht machbar erachte. Oder ich erreiche das Ziel, und habe pedalierend das Nachdenken über das Wie vergessen.

 

Zufrieden auf Nebenstraßen am Weg

Ich starte entspannt am Morgen los. Die Route habe ich mir schon angeschaut. Nebenstraßen sollen es sein. Das heißt dann jedenfalls 20 Kilometer Offroad. Zuerst finde ich eine gute Straße vor, doch bald ist es eine erdig-lehmig-sandige Piste. Es rottelt und rottelt, und das in kurzwelligen Stößen. Doch es gefällt mir, abseits vom Schuss unterwegs zu sein, ganz allein. Immer wieder stoße ich auf verlassene und verfallene einzelne Häuser. Es geht durch landwirtschaftliches Anbaugebiet, doch Höfe sind weit und breit keine zu sehen. Keine Ahnung, wo die sind, oder auch die Dörfer und die Menschen. Irgendwann stoße ich dann auf einen Trupp Bauarbeiter. Sie schauen ziemlich verdutzt drein, als sie mich auf diesem Weg daherkommen sehen. Und staunen auch, als ich versuche, auf dem von ihnen gerade angelegten neu geschotterten Straßenstück weiterzufahren. Doch schon bald muss ich klein beigeben und schieben. Die Straßenwalze taucht erst ein paar hundert Meter weiter vorne auf. Doch auch danach geht es nicht sehr gut. Zum Glück ist das Teilstück nicht so lange. Und danach kommt ohnedies bald wieder eine Abzweigung auf die Autobahn. Dort kurble ich die weiteren Kilometer flott herunter. Beides hat mir heute gefallen. Das abseits der Piste fahren, und das auf der Piste fahren. Ich bin mit dem Tag zufrieden.

 

Am Morgen erwartet mich Nebel. Und so bleibt es den ganzen Tag. Erst am Abend kommt ganz leicht die Sonne durch. Ich fahre wieder Nebenstraßen. Zuerst überquere ich den Don. Dort sehe ich viele kleine Fischerboote. Es ist eine ganz eigene Stimmung. Der Fluss verliert sich im Nebel und mit ihm verlieren sich auch die kleinen Boote in seinem Grau. Es sind zumeist Schlauchboote von Anglern, die hier ihr Glück versuchen. Ich versuche mein Glück dann wieder mit einer Abkürzung durch ein Dorf. Doch dort gibt es nur Sandstraßen. Die erweisen sich für mich als nicht fahrbar. Trotz festgefahrener Autospur gräbt mein Vorderrad sofort im losen Sand. Immer wieder bin ich kurz vor einem Sturz, weil ich vom losen Sand überrascht werde. Ich weiche dann auf die Trampelpfade vor den Häusern aus. So finde ich wieder auf die größere Straße zurück, von der ich abgebogen bin. Sie führt durch Ackerland. Die Straße ist erdig, jedoch fest und es geht verhältnismäßig gut zu fahren. Hie und da gibt es Wasserlöcher, die links und rechts umfahren werden können. Es ist niemand am Weg, außer ein paar riesengroße Traktoren. Auf dem holprigen Straßenstück bin ich schneller als sie. Erst als die Straße wieder besser wird, holen sie mich ein. Die letzten 20 Kilometer des Tages fahre ich dann auf der Hauptstraße. Dort treffe ich auf eine Lastautokolonne. Sie sind mir davor nicht abgegangen, merke ich. Für die Nächtigung kehre ich in einem Motel zu. Die Köchin ist super nett. Sie empfiehlt mir Buchweizen mit etwas Butter und einen feinen Salat. Es schmeckt unerwartet köstlich. Den Salat hat sie ganz fein geschnitten. Rote Beete, gelbe Rüben, Kraut, Erbsen, Tomaten-, Gurken- und Apfelstücke schmecken mit dem Essig-Öl-Dressing ausgezeichnet. Sie freut sich über meinen Appetit. Und ich freue mich, dass ich hier eingekehrt bin. Es war nämlich die letzte Möglichkeit vor dem Ortsende.

 

24. Oktober 2019

Die große Stadt am Don

Der Wetterbericht hat es angekündigt. Es soll wieder Nebel sein, und das ganztags. Für den Vormittag und den späten Nachmittag war es zutreffend. Mittags war es etwas besser. Doch zum Nebel kommt auch ein leichtes Nieseln dazu. Meine Brille beschlägt sich immer wieder mit Wasser. Ich bin oft am Wischen. Über den Helm habe ich schon längst meine Regenkappe gezogen. Ich fahre auf der Autobahn. Es ist nicht so viel los auf der Straße, die ich gewählt habe. Es geht ganz gut. Denn vor Woronezh ist der Verkehr auf mehrere Straßen aufgeteilt.

 

Die Hotelsuche in Woronezh erweist sich dann als schwierig. Das erste Hotel ist bereits voll. Und dann finde ich die längste Zeit keines mehr. Erst recht spät und nach ein paar kleinen Extrarunden durch diverse Ortsviertel finde ich endlich eines. Restaurant haben sie zwar keines, doch einen Tipp für eines gleich um die Ecke bekomme ich mit. Es nennt sich Dolce Vita. Pasta und Risotto mit Pilzen schmecken ausgezeichnet. Das Service macht ein junges Mädchenteam. Irgendwann wechselt dann eine von ihnen auch ein paar Worte in ganz verständlichem Deutsch. Sie gehe auf ein Gymnasium mit erweiterten Fremdsprachenkenntnissen. Toll denke ich mir, wie gut sie das drauf hat. Und bei mir selbst merke ich, dass mich meine paar Worte Deutsch auch freuen. Viel Gelegenheit dazu hatte ich die letzten 3 Monate ja nicht.

 

25. Oktober 2019

Unerwartete Hindernisse

Obwohl am Abend fein und viel gegessen, lange ich beim Frühstücksbuffet wieder voll zu. Es schmeckt mir. Ich genieße das Frühstück und freue mich auf den Tag. Doch als ich das Rad aus dem Abstellraum des Hotels hole, ist der Hinterreifen platt. Also Reparatur vor dem Hoteleingang. Ich finde beim Abgreifen des Reifens ein kleines Drahtstück. Haarfein, und doch stark genug, um in den Schlauch einzudringen. Ich verwende meinen letzten Flicken. Mit etwas Verspätung geht es dann los. Es ist zuerst leicht nebelig und kühl. Erst kurz nach Mittag klart es etwas auf und schaut die Sonne hervor. Aus der Stadt raus ging es ganz gut. Die Straße Richtung Westen ist bedeutend weniger frequentiert als jene nach Moskau. Es schaut flach aus, dennoch gibt es immer kleine Einschnitte im Gelände. Am Abend staune ich, wie viele Höhenmeter sich auf die Art sammeln haben lassen. Irgendwann zweige ich von der Hauptstraße ab. Als Route habe ich mir Nebenstraßen vorgenommen. Ein paar Zuckerrübenlaster sind kurzzeitig am selben Weg wie ich. Sie fahren zu einer Fabrik. Dort stehen schon hunderte an der Straße vor dem Eingangstor und warten auf die Entladung.

 

Ich komme zwar flott voran, doch bin ich ziemlich müde. Die Strecke zieht sich. Es ist nur Ackerland, und es gibt keine Siedlungen. Entweder ist der Boden gerade umgebrochen worden, oder schon wieder angesät. Die frisch umgebrochenen Felder riechen fein nach Erde. Diesen Duft mag ich sehr. Ich wähle eine Strecke, die weit ab von allem quer durch die Landschaft führt. Mehrmals bleibe ich stehen und schaue und schaue. Ich bin allein, und ringsum ist nur Ackerland. Mit dem besser gewordenen Wetter zeigen sich schöne Wolkenbilder am Himmel. Der Weg ist eine erdige, festgefahrene glatte Piste. Es geht erstaunlich gut zu fahren. Ich habe mir vorgenommen, bis nach Stary Oskol zu fahren, unsicher, ob es sich ausgehen wird. Denn der späte Start am Morgen war so nicht eingeplant.

 

Erst bei einsetzender Dämmerung erreiche ich den Stadtrand. Und dann beginnt die große Suche nach einem Hotel. Ich fahre auf einer der Hauptstraßen. Doch ich sehe keine Hinweise auf ein Hotel. Also zweige ich bei einer großen Kreuzung ab, und versuche es in eine andere Richtung. Nur Hotel will und will keines kommen. Inzwischen ist es schon richtig dunkel. Ich ziehe meine gelbe Signalweste an und probiere es weiter. Bei einer Bushaltestelle bleibe ich stehen. Ich spreche fragend einen jungen Mann an. Und es folgt eine unglaubliche Geschichte. Er spricht etwas Englisch und gibt mir mit seinem Telefon einen Hotspot, dass ich selber nach dem nächsten Hotel googeln kann. Und während wir da so rumprobieren und ich als Suchwort Hotel eingebe, müssen wir beide lachen. Denn auf der anderen Straßenseite gegenüber entdecken wir eines. Ich bin erleichtert und freue mich, dass es geklappt hat. Arutyn bietet sogar an, mich zu begleiten. Die Frau an der Rezeption spricht nur Russisch, doch das ist mit seiner Hilfe kein Problem. Dann jedoch checkt sie mit finsterer Miene meinen Pass. Sie sagt zu meinem Erstaunen, dass sie mir kein Zimmer geben könne. Es fehle die Registrierung.

 

Ich bin total perplex und verstehe die Welt nicht mehr. Jetzt bin ich bereits 10 Tage in Russland unterwegs und immer in Hotels abgestiegen. Von meinen einzelnen Passseiten gibt es bereits zahlreiche Kopien. Nur bei diesem Hotel soll es nicht klappen oder etwas nicht stimmen? Es gibt ein Hin und Her, doch die Frau erweist sich als stur. Also setzen wir die Hotelsuche im Internet draußen vor der Tür fort. Nicht weit von meinem Standort wird ein weiteres, großes Hotel angezeigt. Arutyn ruft dort an, was er vielleicht besser nicht tun hätte sollen. Denn er schildert die Probleme mit der Registrierung, und prompt gibt es auch von diesem Hotel eine Absage.

 

Ich bin von den Socken. Jetzt stehe ich irgendwo mitten in der Stadt, bin müde, hungrig dazu, es fröstelt mich, und irgendwelche mir nicht geläufige Registrierungsformalitäten machen mir eine Hotelübernachtung unmöglich. Das kann doch nicht sein. Bisher hatte ich da nie Probleme, auch wenn ich manchmal ebenfalls schon spät dran war. Arutyn sucht dann statt einem Hotel die Adresse eines Guesthouses. Es ist außerhalb vom Zentrum. Er meint, dass ich dort sicher was bekommen könnte. Also speichere ich die Route ab. Und irgendwo in einer Siedlungsstraße finde ich dann das Haus und auch ein Zimmer. Eine Passkopie und die Bezahlung genügen, dass ich den Schlüssel ausgehändigt bekomme. Und zum Essen bekomme ich auch noch etwas, obwohl sie eigentlich schon Schluss machen wollten. Reichlich spät stehe ich dann unter der warmen Dusche. Schon spannend, so eine Reise in Russland, denke ich mir. Und interessant, was für Regelungen es in anderen Ländern gibt. Und super, dass ich immer wieder freundliche Menschen treffe, die mir irgendwie weiterhelfen können.

 

26. Oktober 2019

Nebelsuppe

Heute wird richtig dick eingekocht. Nebelsuppe ist das Menü. Dazu gibt es klamme Finger. Von der Landschaft ringsum ist nicht viel zu sehen. Denn auch die Brille beschlägt ständig mit Wasser. Ich setze meine rote Regenkappe auf. Sie schützt nicht nur bei Regen. Sie hält den Wind ab, und den Kopf unterm Helm samt den Ohren etwas wärmer. Die gelbe Signalweste hat überdies eine Doppelfunktion: Sie ist ein Windschutz, und bildet eine Schicht mehr am Körper. Man muss sich zu helfen wissen.

 

In einem Laden noch in der Stadt decke ich mich mit einer Jause und Bananen ein. Zum Glück, denn danach kommt den ganzen Tag keine Gelegenheit mehr zum Einkaufen. Auch die Tankstellen am Weg bieten nur Benzin an, und nichts anderes. Statt weiter über die Nebenstraßen entscheide ich mich für den Umweg über die Hauptverbindung nach Kursk. Es sind mehr als 150 Kilometer. Doch bei Kilometer 120 breche ich ab. Ich sehe gerade ein Hinweisschild zu einem Motel bei einem Lastwagenparkplatz. Lieber jetzt gleich was haben als später im Dunkeln etwas suchen müssen, ist meine Überlegung. In der wenig besiedelten Gegend und abseits des großen Verkehrsstromes sind Unterkünfte sowieso rar. Den Reisepass brauche ich gar nicht vorzuzeigen. Es genügen ein paar Scheine Russische Rubel. Mir passt es, ich bleibe. Ich fühle mich heute zudem etwas müde. Ich habe ja auch schon die 8.000 Kilometer-Marke geknackt. Im Café nebenan bekomme ich eine große Portion Kartoffelpüree mit Krautsalat. Etwas anderes gibt die Küche nicht her, oder wollen sie nicht zubereiten. Egal, ich werde satt und bin zufrieden.

 

27. Oktober 2019

Vor der Grenze zur Ukraine

Am Morgen ist es wieder recht kühl. Später weiß ich dann, dass es den ganzen Tag so ist. Ich ziehe mich also warm an. Es weht ein unangenehmer Gegenwind. Manchmal bin ich froh, wenn ein Lastauto mit Hänger an mir vorbeizieht. Dann ist der Gegenwind für einen kurzen Moment weg. Und etwas warme Luft vom Auspuff kriege ich auch noch ab. An anderen Tagen störend, ist es mir heute ganz recht.

 

Wenn ein großer Lastwagen mit flottem Tempo an mir vorbeizieht, dann ist es wie das Schwimmen auf einer Welle. Zuerst werde ich vom Luftdruck etwas seitlich weggestoßen, bis mich der Sog erreicht. Dieser zieht mich wieder zum Fahrzeug hin, und ich halte gleiche Höhe. Wenn es vorbeigezogen ist, hält der Sog noch kurz weiter, an und man bekommt etwas Geschwindigkeit mit. Diesen kurzen Moment nutze ich, und strample dann ein paar Meter kräftig in die Pedale. Denn im Windschatten lässt es sich immer leichter radeln. Von hinten wird das Ganze wohl wie ein leichtes Schlingern von mir aussehen. Und so fühlt es sich auch an.

 

Es geht den ganzen Tag flach dahin. Eigentlich fein. Doch der Wind lässt kein hohes Tempo zu. Auf der Straße ist wenig los. Richtung Ukraine verdünnt sich der Verkehr weiter. Es ist ein berauschendes Gefühl, in dieser weiten Landschaft die Straße fast nur für sich allein zu haben. Vom Vortag bin ich zwar noch etwas müde, doch es geht mir ganz gut. Ab mittags kommt die Sonne durch und am Nachmittag gibt es ein feines Licht. Die großen Felder sind frisch eingesät. Es sprießt ein sattes Grün. Ganz ungewohnt, so große Flächen Ende Oktober kräftig grün zu sehen. Je näher ich zur ukrainischen Grenze komme, desto mehr Zuckerrübenfelder finde ich vor. Die Rüben sind längst geerntet und warten in großen Halden auf den Abtransport. So angehäuft schauen sie wie große Walle in der Landschaft aus. Einmal kann ich auch zusehen, wie sie gerade auf die großen Laster verladen werden. Später holen mich diese dann wieder auf der Straße ein. Die Laster sind alle von der gleichen Marke, Kamaz. Und sie haben alle die gleichen zweiachsigen Anhänger und die gleichen Abdeckplanen. Farblich dominieren ein sattes Blau und ein dunkles Oliv. Oder es dürften diese Farben sein, die sie mal hatten. Denn die meisten dieser Fahrzeuge schauen schon ziemlich beansprucht aus und sind in die Jahre gekommen. Zum Glück endet ihr Auspuffrohr auf der linken Fahrzeugseite. So muss ich dann nur kurz die Luft anhalten, wenn ich im Gegenverkehr auf sie treffe.

 

Im Hotel läuft die Registrierung problemlos ab. Der Inhaber macht Kopien aller Passseiten. Damit hat es sich. Dann erklärt er mir noch seine Speisekarte. Denn ich habe ihn nach Essen gefragt. Mit etwas Mühe beim Übersetzen einigen wir uns auf Suppe, Krautsalat und Kartoffelpüree mit Ei. Danach wird die Uhrzeit zu einem längeren Thema. Eigentlich war ich hungrig und wollte schon gleich etwas essen. Doch er deutet mir auf seiner Uhr, dass es erst um 7 Uhr 30 etwas gibt. Und er ist nicht davon abzubringen. Also finde ich mich als einziger Gast um halb 8 Uhr abends in seinem großen Speisesaal ein. Dort beginnt das Prozedere zur Menüauswahl wieder von vorne. Diesmal ist es die Bedienung, die mit mir die Speisekarte durchgeht. Ich bekomme einen gemischten Salat mit Gurken und Tomaten, dazu Bratkartoffeln und Spiegelei. Etwas anderes hätten sie nicht. Es sind sehr kleine Teller. Also bestelle ich das Ganze nochmal nach. Denn Hunger habe ich nach dem Radeln eigentlich immer. Beim Gehen frage ich beiläufig, eine negative Antwort erwartend, ob es bei ihnen auch Frühstück gibt. Die Bedienung ist unsicher und fragt beim Inhaber nach. Über dessen Antwort bin ich dann ziemlich verdutzt, und muss schmunzeln: Eh klar, haben wir ja ausgemacht, ist seine Antwort, und die Bestätigung für 7 Uhr 30. Und damit muss ich wohl auch gar nicht mehr berichten, was es zum Frühstück am nächsten Tag um diese Zeit gegeben hat. Ach, wenn ich nur Russisch gelernt hätte, in den 14 Tagen jetzt beim Radeln hier, oder in meinen vielen Lebensjahren davor …