28. Oktober 2019
Welcome to Ukraine
Am Morgen gibt es das Spezialmenü, das ich schon am Vortag bestellt hatte. Mir schmeckt’s. Weniger schmecken tut mir das Wetter. Es zeigt sich wieder sehr bedeckt und ziemlich frisch. Der Weg bis zur ukrainischen Grenze ist nicht weit. Es sind nur vereinzelt Autos unterwegs. Lastwagen sehe ich keine mehr. An der Grenze muss ich alle meine Packtaschen vom Rad nehmen, sie öffnen, und zum Teil auspacken. Jetzt weiß ich jedenfalls auch selbst wieder, wo ich was verstaut habe. Denn bei einem Federpennal war ich gleich gespannt wie der Beamte. Ich hatte es die letzten 3 Monate nie in der Hand. Dort habe ich Kleinutensilien fürs Fahrrad drin. Die ärmellose Daunenweste, die ebenfalls zum Vorschein kommt, ziehe ich nach dem Auspacken gleich an. Das schien den Beamten eine vertrauensbildende Maßnahme gewesen zu sein, für die sie in ihren dicken Fellmützen und langen wattierten Überziehjacken Verständnis zeigten. Es war nämlich wirklich zugig zwischen den Gebäudekomplexen. So darf ich alles wieder rasch einpacken. Ich bekomme den Stempel für die Ausreise. Mit verschränkten Armen deutet der Beamte ein Kreuz an: Ab jetzt, Russia Net.
In der Ukraine sind sie am Grenzposten ebenfalls freundlich. Der Eindruck ist, dass es ein bisschen lockerer und weniger förmlich bürokratisch zugeht. Dennoch schauen viele meinen Pass an, gibt es Laufzettel von einem Posten zum nächsten, stehen Soldaten mit Maschinengewehren herum, wird kontrolliert. Und auch nachgefragt, wohin ich denn will, woher ich komme, und dass es zum Radeln wohl ziemlich kalt sei. Das Ganze geht jedoch ganz zügig. Es ist kein langer Aufenthalt. Mit einem weiteren Stempel im Pass kann ich meine Fahrt bald fortsetzen. Ich freue mich. Und bin gespannt, wie es sich in der Ukraine radelt.
Die Straßenverhältnisse sind unverhältnismäßig schlechter als auf der anderen Seite der Grenze zuvor. In den wenigen kleinen Ortschaften am Weg schaut es ziemlich trist aus. Ländliche Umgebung bedeutet desolate Häuser, ist mein Eindruck. Bei einer Bushaltestelle wartet ein kleines Mädchen mit einem Landhockey-Schläger. Wahrscheinlich fährt es zum Spielen nach Sumy, der nächsten größeren Stadt. Auf der Straße kommt mir in einem Waldstück ein Mann mit einem zweirädrigen Schubkarren entgegen. Er transportiert Alteisenteile. Ein zerbeultes Abwaschbecken sehe ich auch. Ich nehme an, dass er die Dinge zu Hause gebrauchen kann, irgendetwas flicken wird. Es geht also gleich weiter wie auf der anderen Seite der Grenze, denke ich mir. Auch dort hat es am Land so ausgeschaut, als ob sie mit Wenigem ein Auslangen finden müssen.
In Sumy, einer regionalen Hauptstadt im Osten der Ukraine, herrscht reges Treiben. Ich suche gar nicht lange nach einem Hotel, sondern steige gleich beim ersten ab, nahe zum Zentrum. Ich will mich etwas erwärmen und ein bisschen Pause machen. Danach die restlichen Rubel tauschen und Hrywnja abheben. Vielleicht auch die weitere Route planen und vorweg Übernachtungsmöglichkeiten checken. Denn die Tage werden schon merklich kürzer. Und mit der Kälte und dem rauen Wetter sind es eher zähe Kilometer.
Die Frau an der Rezeption begrüßt mich sehr freundlich. Sie will mir zwar nicht glauben, dass ich mit dem Fahrrad schon so weit gefahren bin, doch das ist ja auch für mich selbst fast unglaublich. Ich bekomme für mein Rad einen Platz in der Garage, und für mich ein kleines Zimmer im 2. Stock mit Fenster in einen Innenhof. Freie Sicht auf die imposante Kathedrale gibt es noch dazu. Ich packe meine Sachen aus und bin zufrieden. Doch ein T-Shirt fehlt. Vermutlich habe ich es im letzten Hotel abgebaut, oder davor irgendwo liegen gelassen. Doch zurückfahren und suchen halte ich für eine zu übermütige Idee. Ich mag jetzt mal meine Füße ausstrecken, und einen halben Tag Pause machen vom Pedalieren.
29. Oktober 2019
Räder aus allen Epochen
Es ist ein feiner Morgen. Klar und kalt, jedoch sonnig. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich viele Schornsteine, aus denen es weiß in den blauen Himmel dampft. Aus der Stadt hinaus erwische ich eine grüne Welle. Die Ampeln zeigen in Sekunden zusätzlich die verbleibende Zeit bis zum Umschalten an. Das gefällt mir sehr gut. Das war in Russland schon so, und zum Teil auch in der Türkei. Man kann sich zeitlich gut orientieren. In einer knappen Minute geht sich zum Beispiel ein rascher Blick auf die Karte gerade aus, bevor sich alles wieder in Bewegung setzt.
Die Straße ist ziemlich holprig. Es geht immer wieder entlang vieler kleiner Siedlungen. Dorfkerne gibt es keine. Die Häuser sind der Straße entlang aufgefädelt. Mit Zäunen und Toren grenzen sie sich von der Straße ab. Manchmal sind es ganz bunte Kreationen. Doch eher ist alles in einem desolaten Zustand. Neubauten sieht man hier überhaupt keine. Alles ist schon ziemlich in die Jahre gekommen. Der breite Grünstreifen vor den Häusern links und rechts von der Straße gehört den Hühnern und Gänsen. Solche gehören hier zu jedem Haus dazu. Und manchmal gibt es auch noch ein paar Ziegen, oder einzelne Kühe, und auch immer wieder Hunde. Für diese bin ich eine willkommene Abwechslung in ihrem sonst wohl eher trägen Alltag. Die kleineren ignoriere ich, und lasse sie bellen bis sie außer Atem sind. Bei den größeren zeige ich schon ein bisschen Respekt. Doch ein resolutes „Hey“, ein kurzes Blockieren des Hinterrades, und ein Andeuten, dass auch ich auf sie losgehe, bremst ihren Eifer meist rapide ein.
Interessanterweise waren heute viele Fahrräder zu sehen, ganz im Gegensatz zu den Monaten davor. Beim Baujahr schlagen sie die alten Ladas aus den 50-iger Jahren um Jahrzehnte. Diese haben dafür beim Rost und den Blechschäden die Nase vorn. Innovativ und kreativ sind sowohl Autofahrer wie Radfahrer, wenn es ums Reparieren geht. Die Sitze der Ladas habe ich mir nicht angeschaut, nur die Sättel der Räder gesehen. Da sind abenteuerliche Reparaturen dabei. Manchmal scheint nur ein Stück Stoff mehrfach um das noch vorhandene Sattelrohr gewunden und mit einem Plastiksack verschnürt als Sattel zu genügen. Doch fahren lassen sich die Dinger anscheinend dennoch. Wenn mir mit meinem Reiseflitzer jemand auf so einem alten Gerät auf der Straße begegnet, dann schauen wir einander beide gleich verwundert an, und denken: Na sowas …
Irgendwann am Vormittag musste ich meinen Hinterreifen wieder reparieren. Ein dünner Metallstift steckte im Mantel und ließ die Luft recht schnell entweichen. Wahrscheinlich sind die Reifen der alten Räder gegen so etwas immun. Bei einem steinharten Gummi geht sicher nichts mehr durch. Nicht so wie bei meinem butterweichen neuen Stück. Es kann also auch seine Vorteile haben, mit altem Material am Weg zu sein.
30. Oktober 2019
Kornkammer Ukraine
Der Wetterbericht hat für die nächsten Tage Sonne angesagt. Eigentlich ein Grund zum Freuen. Nur scheint das gute Wetter auch mit kalten Temperaturen einherzugehen. Denn beim Start hat es heute 1 Grad Minus. Und so frisch bleibt es fast den ganzen Tag. Mittags zeigt das Thermometer mit der Sonne zwar wieder Plusgrade an. Doch dafür bläst mir ein eisiger Wind von den Feldern entgegen. Ich fahre mit Daunenweste, Handschuhen, und den Regengamaschen als Windschutz und isolierendem Puffer an den Füßen. Ich bin eher langsam am Weg. Die Straße ist ein einziges Flickwerk. Es rüttelt mich kräftig durch. An ein gleichmäßiges Pedalieren ist nicht zu denken. Ich muss öfters aus dem Sattel, um die Schläge abzufedern. Oder Schlangenlinien fahren, um den ärgsten Löchern auszuweichen. Doch der wenige Verkehr lässt es zu. Vielleicht ist auch wegen der Straßenbeschaffenheit hier so wenig los. Oder ich bin einfach in einem entlegenen Teil der Ukraine am Weg. Denn rund herum sind nur Kornfelder zu sehen. Bei einigen ist die Ernte gerade im Gang. Da stehen die Laster auf der Straße. Und im Feld sind sie mit abenteuerlichen Gerätschaften am Werken. John Deere scheint hier einen guten Verkaufsmanager zu haben. Denn es wird durchwegs mit modernen Maschinen in grüner Farbe mit gelben Rädern gearbeitet.
Bei den bereits abgeernteten Flächen sind in der Nähe von Häusern immer wieder Leute auf den riesigen Feldern zu sehen. Meist sind es Frauen, die nach Maiskolben suchen. Das war bei den Zuckerrübenfeldern davor öfters auch schon so. Sie haben große Jutesäcke dabei, und suchen die Felder nach Resten ab. Wenn es Männer sind, die suchen, dann steht irgendwo ein alter Lada am Ackerrand. Die Frauen haben Fahrräder dabei. Auf diese packen sie die Säcke hinten drauf. So sehe ich sie dann schiebend auf der Straße oder dem Feld unterwegs. Spätestens bei diesem Anblick wird mir immer bewusst, dass das Leben hier am Land von anderer Art ist.
31. Oktober 2019
Betonplatten
War es am Vortag noch das eine Grad Minus, das mir als sehr kalt erschien, so sind es heute Morgen die Minus 7 Grad, die mir so vorkommen. Eingemummelt und mit hochgezogenem Kragen starte ich dennoch frohen Mutes. Denn es scheint ja auch die Sonne. Doch entweder ist es den anderen zu kalt, oder sie wählten eine andere Route. Denn auf dem von mir eingeschlagenem Weg ist nur wenig oder kaum Verkehr. Ein paar Kilometer später beginne ich zu ahnen, wieso. Es ist eine Betonplattenrüttelstrecke übelster Art. Alle 6 Meter macht es einen Holperer. Das ist der Übergang von der einen Betonplatte zur nächsten. Öfters macht es jedoch auch 2 Holperer. Dann ist die Betonplatte gebrochen. Oder es sind 3 oder 4 Holperer von einer zur nächsten Platte, wenn Löcher bereits mit Asphalt zugegossen wurden. So geht es gut 90 Kilometer dahin, ein Holperer nach dem anderen. Manchmal sind die Plattenübergänge nicht plan, sondern ist eine der Platten zusätzlich aufgeworfen. Dann fällt der Holperer noch stärker aus. Hie und da meine ich auch, auf einem Bahngleis unterwegs zu sein. Wenn sich ein Lastauto nähert, ist nämlich ein schnelles Stakkato von Metall auf Metall zu hören, wie bei einem Güterzug, bei dem ein paar Räder unwuchtig sind. Es macht tak, tak, tak, tak, und das in einem schnellen Rhythmus. Doch auch bei mir ist es ein ähnliches Geräusch. Die vorderen Packtaschen scheppern ebenfalls kräftig. Am Anfang bin ich ziemlich genervt von diesen Plattenübergängen. Ich überlege nach Ersatzrouten. Nur ich bin im ukrainischen Niemandsland unterwegs. Und eine andere Straße ist viel zu weit weg, als dass ich sie erreichen könnte. Und mit der Erfahrung meiner bisherigen Strecken in der Ukraine, ist ihr Zustand auch nicht als wesentlich besser anzunehmen. Also stelle ich mich auf die Holperei ein, und mache meine Kilometer. Es geht nicht sehr flott voran, doch es geht voran. Und so erreiche ich wie erhofft am frühen Nachmittag die Vororte Kiews.
1. November 2019
Va Bene
Ich suche in Kiew ein Fahrradgeschäft. Kettenwechsel ist angesagt. Nach längerer Kreuz- und Querfahrt durch die Vorstadt finde ich den Laden. Auf der großen Hauptstraße ist es gar nicht so einfach, die Seiten zu wechseln. Denn die Fahrbahnen sind mit Leitplanken getrennt. Die Zu- und Abfahrten sind hier riesige Kreisel mit vielen Ausgängen. Und wenn es mehrere Fahrspuren gibt, dann heißt es als Radfahrer meist hinten anstehen. Außer man geht volles Risiko. Doch dann braucht man eine richtige Hupe. Mit meiner feinen netten Klingel ist da nichts auszurichten. Im Fahrradladen ist der junge Mechaniker sehr bemüht und geschickt. Ich schaue ihm zu und denke, dass er die Handgriffe alle gut drauf hat. Wegen wärmerer Handschuhe haben sie leider nichts Passendes auf Lager. Sie holen zwar noch Neopren-Stulpen hervor, doch die sind nur für gerade Lenker zugeschnitten. Beim Anblick dieser Dinger beginne ich zu zweifeln, ob ich mit meiner Winterausrüstung richtig liege. Wahrscheinlich muss ich da kräftig nachrüsten. Oder mir klar werden, was ich die nächsten Monate machen will.
Die Fahrt zum Hotel gestaltet sich ähnlich wie die Fahrt zum Fahrradladen. Ich bin etwas länger am Suchen, bis ich auf der richtigen Spur bin. Es ist ziemlich viel los auf der Straße, und zentrumsnahe dann noch mehr. Nach dem frühen Einchecken probiere ich mich noch an einem kleinen Stadtbummel. Nur fehlt mir der Überblick. Kiew ist für mich riesig. Und weil ich die Tage davor nur am Land meine Kilometer abspulte, tue ich mir jetzt im Gewimmel der Stadt grad etwas schwer. Doch mit Stadtplan und Google Maps finde ich mich dann etwas zurecht. Und ein feines Bistro entdecke ich auch noch. Es nennt sich Va Bene. Dort feiere ich meinen Hunderter, ich meine den an bisherigen Reisetagen. Mit Bruschetta, Minestrone, Spaghetti und Cheese Cake sorge ich dafür, dass die Energiebilanz körperlich und mental wieder passt. Und beim Nippeln an einer fein fruchtigen, angenehm leicht säuerlich schmeckenden, selbst gemachten Orangenlimonade denke ich über meine Tour nach. Dass ich es in einer großen Schleife bis nach Kiew geschafft habe, finde ich echt toll. Und der Hunderter-Schnitt an Kilometern pro Radtag freut mich angesichts des langen Zeitraums und meiner Ausrüstung ebenfalls. Schade, dass der Winter schon im Kommen ist. Denn bisher hat es mir mehr als nur gepasst.
3. November 2019
Ab zum Flughafen
Bei recht kühlem und windigem Wetter nehme ich an einer Stadtführung teil. Es ist eine größere bunte Gruppe aus vielen Nationen. Alle sind für ein paar Tage nach Kiew gekommen. Die meisten haben auch Tschernobyl auf ihrer Reiseliste. Es liegt nur 120 Kilometer nördlich von Kiew. Die Ukraine hat eine spannende und auch blutige Geschichte. Und Kiew als ihre Hauptstadt natürlich auch. Wir machen eine Runde durch das alte Kiew. Der Führer ist ein Ukrainer. Er berichtet von der Beziehung der Ukraine zu Russland, und deren Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit. Und er ist sichtlich stolz auf sein Land und seine Stadt. Das rechte Dnjepr-Ufer ist erhöht. Es ist der ältere Teil von Kiew. Und von dort bekommt man ein wenig Ahnung, wie groß diese Stadt ist. Sie zählt fast 4 Millionen Einwohner. Bis zum Horizont reiht sich Hochhaus an Hochhaus. Und den vielen Baukränen nach, will die Stadt weiter wachsen. Mich hat dieser Ausblick beeindruckt. Wohl auch, weil ich so etwas nicht gewohnt bin.
Doch so interessant die Stadtführung auch war, ich fieberte einem anderen Ereignis entgegen: Eine Zugfahrt zum Flughafen Borispol. Nicht um mit meinem Fahrrad in wärmere Gegenden abzuheben, sondern um dort meine Tochter zu treffen. Ja, meine kleine Welt definiert sich auch über meine beiden großen Kinder. Und so freuen wir uns beide, uns wieder einmal zu sehen. Nach 4 Monaten tut sich dafür ein kleines Zeitfenster von einem kurzen Abend auf. Lange genug, um auch Weiteres abzumachen.
Meine Tochter und Kiew waren für mich seit der Türkei ein bisschen wie Motivationsfaktoren fürs Radeln. Mit einem Ziel vor Augen radelt es sich leichter. Da lassen sich Distanzen festmachen und Tagesetappen ausrechnen. Oder die Kilometer mit dem Kalender verbinden. Da bekommt das Fahren Konturen, wird es greifbar, wird es machbar. Ich denke, dass so ein Antrieb wichtig ist für mich. Oder ich suche ihn, um das Radeln zu strukturieren. Dann tue ich mir leichter. Wahrscheinlich brauche ich diesen äußeren, gedanklichen Rahmen. Dann kann ich mich darin frei und nach Lust und Laune bewegen. Und fühle ich mich auch frei, den Rahmen zu verschieben, und neu zu definieren. Kiew und das Treffen mit meiner Tochter ist sich ausgegangen. Eigentlich unglaublich. Weil wir es nicht groß abgemacht haben, und sie aus beruflichen Gründen oft unterwegs und nicht immer in Kiew ist. Na ja, ich war die letzten 2 Wochen schon kräftig dahinter, dass ich für dieses Wochenende sicher nach Kiew komme. Da hätte ich mich wohl durch nichts einbremsen lassen. A rose is a rose is a rose, fällt mir als Vergleich ein. Und meine Tochter ist meine Tochter, ist meine Tochter.
4. November 2019
Allein durch Birkenwälder
Beim Aufbruch in Kiew ist das Wetter ziemlich unlustig. Es nieselt leicht und die Stadt wirkt fahl und grau. Ich weiß nicht, wo die vielen Autos alle hinfahren. Anscheinend mit mir Richtung Westen. Denn dort scheint es etwas besser zu sein. Ab mittags klart es nämlich ein bisschen auf. Und so ist es ein ganz akzeptables Mitschwimmen in der großen Verkehrsmasse. Sie hat sich später merklich verdünnt. Je weiter weg von der großen Stadt, desto erträglicher wird es auf den Straßen. Für die Nacht habe ich ein Hotel an einem See vorgebucht. Im Sommer ist es wahrscheinlich ein beliebtes Ausflugsziel. Doch jetzt im November bin ich der einzige Gast. Es gibt einen eigenen Sicherheitsdienst, werde ich belehrt. Also stelle ich mein Rad vor seinem etwas erhöhten Wärterhaus auf dem leeren, großen Parkplatz ab.
Am Morgen winkt mir der Wärter gut gelaunt vom Fenster aus zu. Vielleicht war er froh, dass er diese Nacht eine Aufgabe hatte. Oder er freut sich, dass es mit seiner Arbeit geklappt hat, und das Rad noch da ist. Das Wetter ist ganz mild. Noch bevor ich aufs Rad steige, ziehe ich die Daunenweste wieder aus. Auch bei den Handschuhen entscheide ich mich gleich für die normalen Radhandschuhe anstatt der dicken Sachen. Und der rote Windschutz beim Helm muss ebenfalls sofort runter. Mit Sonne ist es fein zum Starten, auch wenn die Straße ganz taunass ist. Als spätes Frühstück kaufe ich unterwegs bei einer Tankstelle ein Vanille-Muffin. Eher eine Verlegenheitsbestellung, weil es nichts anders gab. Mit Staunen stelle ich dann fest, dass so ein Muffin gut schmeckt. Alle anderen trinken Kaffee dazu, nur so wagemutig war ich dann doch nicht, den auch noch zu probieren. Von allen Prinzipien muss ich mich ja nicht trennen.
Die Straße führt flach durch Brachland und Wälder. Birken dominieren das Bild. In einer Kleinstadt versäume ich eine Abzweigung, wie ich erst später merke. Wenn die Ortsnamen nur ukrainisch angeschrieben sind, kann ich sie nicht lesen, oder mir merken. Und ich dachte, dass ich weiter auf der von mir gewählten Strecke fahre. Als die längste Zeit keine Ortschaft mehr kommt, werfe ich einen Blick auf die Karte. Es wird dann ein längerer Tag, obwohl er im November eigentlich schon merklich kürzer ist. Doch das Fahren gefällt mir sehr. Mit der tiefstehenden Sonne ist es eine ganz eigene Stimmung. Die Brauntöne der Gräser wirken viel intensiver. Auch gefällt mir der Wechsel zwischen Waldstücken und offenen Flächen. Und dass ich bis zum Erreichen der Hauptstraße über mehrere Stunden fast allein am Weg bin, hat mich ebenfalls bei guter Stimmung gehalten.
5. November 2019
Bestandsaufnahme und neues Ziel
Nach dem langen Tag zuvor, gehe ich es heute gemächlicher an. Auch wähle ich gleich schon die Hauptstraße, und damit einen sicheren Weg. Ich habe auch keine Abstecher vor. Nur der Gegenwind war heute stärker, manchmal auch unangenehm störend. Sonst war es ein feines Gleiten auf gerader, guter Straße.
Abends schaue ich mir in Google Maps meine Route an. Ich mache eine Bestandsaufnahme. Der Schwenk nach Westen ist jetzt deutlich zu sehen. Von Tiflis bin ich gerade hoch nach Norden bis Woronesch. Doch dann geht es nur noch Richtung Westen. Dabei habe ich den Lenker immer gerade eingestellt. Auch die Sitzposition ist die gleiche. Doch die Erklärung ist einfach. Nach Kiew wollte ich unbedingt. Nur wegen des Krieges im Donbass musste ich dafür recht weit hoch nach Norden, um einen offenen Grenzübergang zu finden. Und dann kamen ein paar Tage mit kräftigen Minusgraden, fast wie als Wink für mich. Da holte ich mir glaub kalte Füße. Oder es wurde mir bewusst, dass ich für ein Winterradfahren nicht vorbereitet oder eingestellt bin. Und wenn ich mich wieder nach Osten orientiere, dann lasse ich mich auf ein solches ein. Ich bin im Sommer einfach zu spät gestartet. Also: Kein Richtungswechsel in Kiew, sondern weiter geradeaus nach Westen. Ich werde daheim überwintern, und nicht irgendwo im Osten, ist der neue Plan. Und mit ein paar guten Tagen so wie jetzt könnte es sich vielleicht noch vor dem großen Schnee ausgehen. Der kann dann gerne kommen, wenn ich daheim bin. Denn Abwechslung vom Radfahren und einen Umstieg auf Ski kann ich mir gut vorstellen. Auch wenn ich hier sehr vom Radeln schwärme, nichts anderes machen möchte.
6. November 2019
34 Kilometer und Kilometer 115
Regen in der Nacht. Am Dachfenster höre ich das Prasseln ganz deutlich. Es lässt mich etwas unruhig schlafen. Doch am Morgen scheint der Regen vorbei zu sein. Nur in den Straßen will er nicht überall abfließen. Wenn die Autos am Rand fahren, dann ergießt sich ein richtiger Schwall über den Gehsteig und den Straßenrand. Ich entscheide mich zum Fahren eher für die Straßenmitte, und schwimme so im Frühverkehr mit. Ein Hupen der Autofahrer gibt es deswegen nicht, sie zeigen Verständnis. Und ich kriege keine Spritzer ab, das freut mich noch mehr.
Später fahre ich dann mehr zick zack, nutze die ganze Straßenbreite aus. Ich mache es gleich wie die Autos. Die Straße ist in einem schrecklichen Zustand. Doch während die Autos ihre 4 Räder an den Löchern vorbeiführen wollen, bin ich mit meinen 2 Rädern fast im Vorteil. Wenn man nicht auf den Hauptverbindungen unterwegs ist, dann muss man mit solchen Verhältnissen rechnen, ist jetzt meine Erfahrung aus den vergangenen Tagen. Dennoch suche ich bei meiner Straßenwahl offensichtlich immer wieder eine Bestätigung dafür. Und heute habe ich dabei voll ins Schwarze getroffen.
Irgendwann erreiche ich eine Natursteinpflasterstraße. Sie ist für mich praktisch unfahrbar. Ich muss auf den sandigen Rand und den Wiesenstreifen daneben ausweichen. Nur so komme ich etwas voran. Es ist eine Verbindungsstraße zwischen 2 größeren Strecken. Von der Ausrichtung bin ich mir sicher, dass ich da durch muss. Doch dann kommt ein Hinweisschild mit 34 Kilometern bis zur Hauptstraße. Und das lässt mich auf den nächsten Kilometern immer wieder verärgert aufschreien. Die ruppigen Pflastersteine ziehen sich in feinen Windungen spiegelnass glänzend durch die Landschaft, nehmen kein Ende. Von den kleinen Kuppen kann ich gut einsehen, dass es scheinbar endlos so weiter gehen wird. Es waren dann zum Glück nur knappe 10 Kilometer. Der Rest war asphaltiert, doch nicht viel besser.
Bei einer kurzen steilen Abfahrt war ich viel zu schnell. Ich hätte bremsen sollen. Doch ich traute mich nicht 2 Finger zum Bremsen vom Lenker zu nehmen. Vor lauter Rütteln hätte ich die Hebel wahrscheinlich ohnedies nicht getroffen. Den Körper voll angespannt brauchte ich in den Pedalen stehend alle Kraft am Lenker, um Balance und Richtung zu halten. Später fing es noch leicht zu nieseln an, und wurde der Wind stärker. Doch laut Wetterbericht sollte es am Abend besser werden. Und bei Kilometer 115 tat ich dann endlich vor Freude meinen täglichen Juchzer. Ich hatte längst wieder die Hauptstraße erreicht. Dort zogen die Lastautos einen feinen Gischtnebel hinter sich her. Mit der für kurze Zeit hervorgekommenen Sonne meinte ich, immer wieder Regenbogenfarben in dieser Gischt zu sehen. Es sind diese kleinen Momente des Glücks, die die Anstrengungen vergessen machen. Und als ich dann in rundem Rhythmus auf dem Rad wieder Kilometer mache, hat mir der Tag gepasst. Im Hotel nehme ich die Packtaschen und die Überziehschuhe mit unter die Dusche. Ich spüle den heute angesammelten Sand ab. Das Rad nehme ich mir für ein anderes Mal vor. Und dass ich künftig mehr auf den Hauptstraßen fahren möchte, nehme ich mir auch vor.
7. November 2019
Lemberg, oder richtig Lwiw
Unspektakulär, flach und gerade geht es nach Lwiw, der westukrainischen Metropole. Sie sei „gepflegt und lebendig, aber nicht bis zur Unkenntlichkeit geliftet“, habe ich davor in einem Artikel nachgelesen. Also freue ich mich auf meinen eigenen Eindruck dann. Doch statt des Kulturbummels in der Altstadt wird es aus pragmatischen Gründen ein Einkaufsbummel. Ich habe am Morgen nämlich meine dicken Winterhandschuhe vermisst. Wahrscheinlich habe ich sie am Vortag beim Pinkeln irgendwo auf einer Leitplanke abgelegt und vergessen wieder einzupacken. Daher haben mich heute warme Handschuhe mehr interessiert als die architektonischen Stiljuwele der UNESCO Weltkulturerbe-Stadt. Die neuen Fingerwärmer finde ich dann in einem modernen Einkaufszentrum. Am Weg dorthin bekomme ich kopfsteinpflasterstolpernd einen Hauch von dem mit, worüber andere von dieser Stadt so schwärmen. Lwiw wäre wohl was für etwas länger, denke ich mir auch. Vielleicht mal wenn kein Nebel herrscht, oder einsetzender Regen und frühe Dunkelheit einem einen Strich durch die Rechnung machen. Und vor allem dann, wenn Handschuhe nicht ganz oben am Einkaufszettel stehen.