Nach Übersee ist schon lange mal fällig

Anfang November letzten Jahres, ich hatte die Skitourensaison gerade eben gestartet, konnte ich die Nachricht der amerikanischen Botschaft lesen: Die Vereinigten Staaten öffnen ihre Grenzen wieder für Reisende aus Europa. Gut zu wissen, dachte ich mir damals. Doch mehr beschäftigte mich danach der gute Schnee und die Lust aufs Skitouren. Und das hielt den ganzen Winter über an.

 

Ich war fast jeden Tag am Weg, und manchmal gleich auch noch ein zweites Mal rauf, weil es so schön war. Da war kein Gedanke ans Radfahren. Nur mich austoben im Schnee. Und dabei fast nicht genug davon bekommen. Kein Wunder, dass sich am Höhenmeterkonto einiges tat. Während ich letzte Saison eher gezielt darauf hinarbeitete, ging es diesen Winter wie von selbst.

 

Wenn mich Freunde neugierig nach Plänen fürs Radfahren fragten, so antwortete ich meist ausweichend: Jetzt habe ich mal den Fokus aufs Skitouren. Aber die eine Nachricht von den wieder offenen Grenzen der USA blieb mir schon in Erinnerung. Das Visum für einen längeren Aufenthalt hatte ich mir ja schon im März 2020 geholt. Doch noch bevor ich damals nach Amerika aufbrechen konnte, war das Corona-Virus schon am Reisen. Und es sorgte hinter sich für geschlossene Grenzen. Aber wenn die jetzt wieder offen sind, dann schaut die Sache natürlich anders aus.

 

Und kaum hatte ich bei den Skitouren die 200.000 Höhenmeterschallmauer geknackt, war die eine Idee von früher wieder ganz präsent: Ja, Übersee, da wollte ich schon länger mal hin. Das ist für heuer fällig. Vielleicht geht es sich dieses Jahr 2022 wirklich aus.

 

Die Vorbereitung - anders als bisher

Ich hatte mich in Reiseberichten immer wieder über Tourenmöglichkeiten in den USA informiert. Wie das Land selbst, so ist auch die Auswahl an Touren riesig: Quer durch, in der Mitte, im Norden, im Süden. Die Küsten rauf und runter, im Osten oder im Westen. Dazu noch berühmte Passagen und Schleifen irgendwo, entlang von Flüssen, Bahnlinien oder Naturlandschaften. Mit dem Wind oder gegen den Wind. Die American Adventure Cycling Association verspricht, dass unter den vielen möglichen Routen alle etwas Passendes für sich finden. Doch so eine verlockende Werbebotschaft trifft wohl für alle Kontinente zu.

 

Nur ich war dennoch fast etwas überfordert mit der Vielzahl an Möglichkeiten. Wollte ich gar alles abfahren? Oder wirklich manches im Detail schon vorher festlegen? Oder eher mal nur eine Vorstellung haben, wohin es gehen könnte? Und dann unterwegs schauen wonach mir ist und ob es passt. Das schien mir letztendlich eine stimmige Variante für mich zu sein. Einen Rahmen und eine Idee haben, und beim Umsetzen dann frei sein, und auch zu improvisieren.

 

Den Flug möglichst kurz, und dann mal bald quer durch. Das war meine erste Festlegung. Und starten irgendwann Mitte Mai. Doch je näher dieser Zeitpunkt kam, desto nervöser wurde ich. Das kannte ich von meinen früheren Touren nicht. Wie geht das mit der Fahrradmitnahme im Flieger? Wo komme ich unter? Klappt es mit einem Kaltstart mitten in der großen Stadt? Mag ich nicht lieber abseits vom Trubel unterwegs sein, statt ihn gezielt gleich für den Anfang zu suchen? Ist mein Leben zu Hause mit Familie und Freunden nicht ebenso toll wie das unterwegs sein mit dem Rad? Manchmal können mich solche Gedanken ganz schön verunsichern. Und das war jetzt tatsächlich der Fall.

 

Doch zum Glück verstrich die Zeit der Vorbereitung wie im Flug. Und diesen trat ich mit Swiss am 14. Mai kurz nach Mittag in Zürich an. Destination New York, Reiselust und mein Fahrrad mit im Gepäck. Einige Fragen habe ich ungeklärt einfach zu Hause gelassen. Meine Familie drückt mir die Daumen. Und beim Radla fährt es sich mit wenig Ballast sowieso viel leichter. Ich will mich auf die runde Bewegung und den Fahrtwind im Gesicht freuen - und das Eintauchen in ein amerikanisches Leben noch dazu.

 

Das Einchecken am Flughafen Zürich ging problemlos schnell. Am Gepäckschalter freuten sie sich über den frühen Zeitpunkt. Und ich freute mich über die frühen Meter nach dem Abheben. Es war ein Steigen über bunte Gärten und Dächer, über blaue Pools und Schäfchenwolken, über Felder, Wälder, Wiesen, die immer kleiner wurden. Der Flügel mit dem weißen Kreuz auf rotem Hintergrund teilte den Himmel in zwei Hälften. Unten etwas Dunst, und oben blaue Weite. Und irgendwann dann auch ein atlantisches Blau noch unten.

 

Der Blick auf die Küste beim Ärmelkanal erinnerte mich an das letzte Jahr. Dort bin ich entlang gefahren, nur halt 10.000 Meter weiter unten. Und bei angenehmeren Temperaturen als die Bordanzeige hier oben mit ihren Minus 55 Grad anzeigte. Die Küste auf der anderen Seite des Atlantiks wollte sich dagegen im Nebel und Regen leider nur schemenhaft zeigen. Kein freundliches Wetter also als Empfang in den USA, dafür aber eine freundliche Beamtin beim Zoll am Kennedy Flughafen in New York City. Und auch ein erleichtertes Grinsen bei mir: Der Karton mit meinem Rad stand schon bereit. Beim Einladen in das Taxi half gar noch ein Polizist mit. Er sei ein familyman. Als solcher zeigte er dem ratlosen Taxifahrer, mit welchem Handgriff er die Rückbank umklappen konnte, damit der Radkarton reinpasste.

 

Noch im Taxi machte ich mir Gedanken, was sie wohl im Hotel zu meinem großen Gepäckstück sagen werden. Doch die Sorge war unbegründet. Mit einem breiten Grinsen erkundigte sich nämlich die Rezeptionisten, ob ich mit einem großen Fernseher am Reisen sei. Als solchen durfte ich den Karton natürlich klar mit aufs Zimmer nehmen. Und wenn der Zusammenbau klappt, dann kann das Radfahren morgen also wirklich starten.

 

Der Start am Rad - In New York City geht es los

15. Mai 2022

Wolkenkratzer und Nachmittagstrail

Die ganze Nacht war von der Straße immer wieder entferntes Sirenengeheul zu hören. Es klang gerade so, als ob die Polizei oder die Rettung irgendwo einen Rundkurs fahren. Erst gegen Morgen wurde es etwas ruhiger. Doch vielleicht dämpfte auch nur der dichte Nebel die Geräusche. Denn als ich mit meinem schmucken Reiserenner losfuhr, war die Sicht deutlich eingeschränkt. Die Wolkenkratzer machten damit ihrem Namen alle Ehre. Die oberen Etagen verschwanden irgendwo im schweren Grau. Und unten bot sich zumindest in den Vororten nicht nur des Wetters wegen ein eher tristes Bild. Überall Müll auf den Straßen und reichlich abgewohnte Bauten. Erst näher zu Manhattan wurde es dann anders und mondäner.

 

Nach einer Runde um das World Trade Center wollte ich den Hudson River mit einer Fähre queren. Doch sonntags waren ihre Zeiten eingeschränkt. Ich hätte lange warten müssen. Zum Glück halfen mir zwei heimische Radler weiter. Das Paar aus New York City schlug als Alternative den Zug vor. Und so fuhren wir gemeinsam unter dem Fluss durch statt oben rüber. Nur das Überwinden der schmalen Drehkreuze an den Ein- und Ausgängen war mit meinen Gepäcktaschen am Rad etwas mühsam. Dafür war ich schneller in New Jersey, das mir besser gefiel als die andere Flussseite. Breite Radwege, schöne Gärten, großzügige Vorortsiedlungen, und irgendwann dann ein unbefestigter Trail entlang eines Kanales, dem ich fast den ganzen Nachmittag lang folgte. Der erste Tag am Rad gefiel mir gar nicht so schlecht.

 

16. Mai 2022

Gegensätzliches

Meine Route führte mich abwechselnd immer wieder durch Stadtzentren und deren Vororte durch. Manchmal waren es große Straßen, und dann auch irgendwelche Nebenstraßen außen rum. Beides war hie und da zum Staunen, der Gegensätze wegen. Eine große, platte, tote Ratte mit überlangem Schwanz mitten zwischen dem aufgeworfenen Asphalt der Straße, und rundherum palavernde Leute auf den überdachten Eingangsbalkonen ihrer schmuddeligen Häuser. Oder schmucke Limousinen im Gartengrün vor tollen Villen, die beidseitig fast endlos die Straßen säumten. Und irgendwas dazwischen gab es natürlich auch. Das waren dann meist etwas bieder daherkommende ebenerdige Holzhäuser. Ihr auffälligster Schmuck war meist eine Fahne mit roten und weißen Streifen, und einem von vielen Sternen gezierten blauen Quadrat. Nationalstolz muss man anscheinend immerwährend zeigen. Doch vielleicht fällt dies nur mir als Durchreisendem auf, und die Einheimischen nehmen sie selber gar nicht mehr wahr.

 

Irgendwann am Nachmittag zieht eine Regenfront durch. Das längere Nieseln davor habe ich noch ausgehalten. Doch als die Tropfen dichter werden, entschließe ich mich unterzustehen. Eine Bank kam mir da gerade recht. Ich mit meinem Rad unter dem schmalen Vordach auf der einen Seite, und auf der anderen Hausseite fette amerikanische Schlitten unterm weiten Flugdach des Drive-In-Schalters. Bankgeschäfte lassen sich anscheinend auf vielfältige Weise erledigen, und das auch noch bei Regen. 

 

17. Mai 2022

Schwarzer Rauch und lautes Brabbeln

Heute bin ich schon recht früh aufgewacht. Das Starten eines großen Peterbuilt-Trucks auf dem Parkplatz vor dem Motel hat mich geweckt. Die weißen Rauchwolken aus den verchromten Auspuffrohren beidseitig des Führerhauses machen sich im Morgenrot ganz nett. Einige Zeit lang lässt der Fahrer den Motor gleichmäßig vor sich hin tuckern. Nur kurz vor dem Losfahren gibt er mehrere kräftige Gasstöße. Statt weißem Rauch zeigen sich gleich dichte schwarze Rußwolken. In Amerika gilt die Euro 6-Abgasnorm wohl nicht, denke ich mir.

 

Am Vormittag bin ich gefühlt die ganze Zeit nur geradeaus gefahren. Am Seitenstreifen einer mehrspurig abgeteilten Straße kam ich gut voran. Das Schalten der Ampeln habe ich auch schon gecheckt. Immer wenn die Abbiegespur des Gegenverkehrs leer ist, kann ich bei Rot schon los. Da kommen mir die schweren Peterbuilts und Kenworth beim Ampelstart nie nach. Deren lautes Brabbeln höre ich erst wieder, wenn sie mich später überholen.

 

Jetzt, am dritten Tag am Rad, meine ich bei den Fastfood-Ketten schon einen Favoriten ausgemacht zu haben. Es ist Dunkin' Donuts. Ein leicht getoastetes Brot mit Avocadomus und angebratenen Tomaten, oder mit Humus und den Tomaten, oder mit geschmolzenem Käse und den Tomaten schmeckt lecker. Um das Angebot an Kaffee oder Donuts mache ich einen Bogen. Statt mir greifen da die anderen Besucher reichlich zu. Die steigen dann auch immer in Autos ein. Ohne einem solchen geht hier glaub nichts. Wiewohl es doch auch Radwege gibt, oder zumindest Beschilderungen dafür.

 

18. Mai 2022

Beim Kapitol und beim ersten Präsidenten

Am Morgen Richtung Zentrum gehörte die Radspur nur mir allein. Doch ganz allein war ich dann auch wieder nicht. Denn rund um mich herum dröhnte und rauschte es im Frühverkehr mehr als nur kräftig. Zum Glück konnte ich dann irgendwann in Seitenstraßen weiterfahren. Dort ließ es sich gut radeln, und da waren dann auch noch andere Radfahrer unterwegs.

 

Beim Kapitol war ich überrascht, dass es keine Absperrungen gab. Mit dem Rad über den großen Platz und rund herum, das war ohne Einschränkungen möglich. Und mit den Parks im Umfeld und der Weite der offenen Flächen war es ziemlich imposant. Dazu noch der Blick auf den 170 Meter hohen Marmorobelisk zu Ehren des ersten Präsidenten George Washington, das hat mir in der Morgensonne richtig gut gefallen.

 

Wahrscheinlich hat mich deshalb ein amerikanischer Radfahrer vor dem Lincoln Memorial angesprochen, und sich nach meiner Tour erkundigt. Etwas auffällig bin ich mit meinen Packtaschen ja doch. Er hat mir dann gleich eine Route entlang des Potomac River empfohlen. Der Trail war landschaftlich sehr schön. Er schlängelte sich durch einzelne Waldstücke, ging mit Holzbrücken über Wasser, querte gepflegten Rasen. Nur zum Fahren war es etwas mühsam. Die vielen Baumwurzeln hatten den Asphalt immer wieder aufgeworfen. Es rumpelte kräftig. Doch den Autos auf der nahen Straße ging es glaub nicht anders. Dort waren es die Übergänge der Betonplatten die ich akustisch mitbekam.

 

In Mount Vernon beim George Washington House zählte ich an der Straße über 40 Busse. Da radelte ich dann gerne weiter. Denn neben den Autobussen gab es ja noch die übrigen Autos. Deren Stellplätze waren ebenfalls zum Bersten voll. Und so großartig interessiert hat mich die Präsidentengeschichte dann auch wieder nicht. Aber einen schönen Ort zum Präsident-Sein hat er sich jedenfalls ausgesucht.

 

Beim Weiterfahren musste ich dann ein paar Mal die beiden östlichen Hauptverkehrsrouten Richtung Süden queren. Das war atemberaubend. Denn wenn amerikanische Autos auf 6 Spuren gleichzeitig losdonnern, dann ist da schon was los. Und vor allem, es kommen sofort noch mehr nach als losgefahren sind. Am Abend habe ich dann die Autodichte recherchiert. In Amerika sind es angeblich 800 Autos je 1.000 Einwohner. Für Europa werden 500 angegeben, und für Indien 20.

 

19. Mai 2022

Ländliches Virginia 

Auf der historischen Straße Südroute Nummer 1 war am Morgen erstaunlich wenig los. Mich freute es. Feine Sonne und dazu das leise Surren der Reifen am Asphalt, der Tag fing ganz gut an. Kurz vor Richmond änderte ich die Fahrtrichtung. Aus Süd wurde West. Ein kleiner Einschlag des Lenkers genügte. Und nach ein paar kräftigen Pedaltritten um ein paar wenige Kurven herum, und schon hatte ich ein scheinbar anderes Virginia vor mir: Ländlich, üppig grün, kein Verkehr, schmale Straßen, leichtes Auf und Ab, viel Wald, dazwischen Wiesen, vereinzelt ein paar verstreute Häuser am Rand. Mir gefiel es am Rad richtig gut. Einmal gab es an einer Wiese sogar den Duft von frischem Heu. Ein Bauer war gerade mit dem Wenden des Grases beschäftigt. Er fuhr ein altes Sonnenrad hinter sich herziehend das Feld in gemächlichem Tempo ab.

 

Mittags kehrte ich in einer einsam gelegenen Waldtankstelle zu. Es sollte der einzige Laden den ganzen Tag lang bleiben. Ich machte es mir mit Orangensaft, Kartoffel-Wedges und Salat mit italienischem Dressing auf der überdachten Holzterrasse bequem. An mir vorbei gingen die Leute in den Schuppen rein und raus. Alles Arbeiter, die sich für mittags Essen holten. Den Verpackungen nach langten sie bei frittierten Sachen und Softdrinks zu. Dann schwangen sie sich wieder in ihre Vans und Laster. Einige hatten Mühe mit den wenigen Stufen beim Eingang, waren recht steif und unbeweglich. Viele hatten Erdklumpen an ihren Arbeitsschuhen. Ihre Shirts trugen meist schon vergilbte Aufdrucke irgendwelcher Firmen. Die kurzen Ärmel stellten bei einigen großflächige Tatoos zur Schau. Und fast von allen gab es ein freundliches Nicken in meine Richtung, denn gleich bei der Stiege stand mein Fahrrad.

 

Nachmittags hatte ich für kurze Zeit einen etwas höheren Puls. Ich musste eine Meute von angriffslustigen Hunden abschütteln. Beim Vorbeifahren an zwei Häusern mit reichlich Altmaterial und Krimskrams drum herum hörte ich ein paar laute Rufe. Ich weiß nicht, ob es Aufmunterung für die Hunde war, oder ob sie jemand zurückhalten wollte. Denn plötzlich stürmten 5 kleine schwarze Hunde bellend und geifernd aus dem Gestrüpp und hinter mir her. Ziemlich erschrocken versuchte ich mehr Fahrt aufzunehmen, was nur langsam gelang. Mein lautes Anschreien beeindruckte sie wenig. Zum Glück behinderten sie sich gegenseitig beim Zuschnappen. Bei meinen paar Vorderradschlenkern zur Seite mussten sie in den Straßengraben ausweichen, und kamen dort nicht so gut weiter. So konnte ich sie abschütteln. Ich hatte jedenfalls gehörig Herzklopfen, weil total überrascht, und auch etwas Angst, dass mich einer beim Zubeißen doch erwischt.

 

20. Mai 2022

Im Dunkeln eines Tunnels 

Gleich am Morgen geht es fein leicht auf und ab durch Waldstücke. Gerade Stücke wechseln mit mehreren Kurven dazwischen ab. Mein Tempo ist ziemlich flott. Kein Wunder, ich bin ja gerade erst ausgeruht aufs Rad gestiegen. Doch plötzlich fallen Schüsse. Ich habe sofort die Bilder der beiden verendet im Straßengraben liegenden Hirschkühe von gestern in Erinnerung. Doch ein paar Biegungen später gibt es Entwarnung: Ich sehe ein Hinweisschild des lokalen Rifle & Pistol-Clubs. Am Schießstand ist offensichtlich jemand am Üben, und nicht auf der Jagd.

 

Später geht es dann bei zunehmender Hitze durch hügeliges Farmland. Die Wiesen sind saftig grün. Sie schauen gepflegt aus. Die Straßenränder sind frisch gemäht. Schwarze und braune Kühe grasen, oder machen in größeren Gruppen im Schatten von Bäumen liegend Siesta. Das Dahinrollen in dieser Gegend gefällt mir sehr. Mit einigen Metern pedalieren bekomme ich immer wieder genug Schwung für eine größere Distanz. Ich lausche den Rufen der Vögel, freue mich, wenn Schmetterlinge mit mir kurz um die Wette fahren, rieche den Duft der blühenden Hecken am Wegesrand. Ein Bauer winkt mir aus seinem Pickup freundlich zu. Auf der Ladefläche hat er Mähwerkzeuge, und auf dem Kopf einen Hut mit breitem Rand. Später sehe ich ihn das Gatter zur Wieseneinfahrt schließen. Ich denke mir, dass er mit seinen Stiefeln, dem Hut, und der kräftigen Statur gut in diese Landschaft passt.

 

Gegen Mittag passierte ich das Portal des Blue Ridge Tunnels. Ich dachte, dass es nur ein kurzer Tunnel ist, und fuhr ohne Licht ein. Doch der stillgelegte alte Eisenbahntunnel war über 1,3 Kilometer lang. Ich traf auf einige Wanderer. Sie kamen mir schemenhaft entgegen, und leuchteten für sich und damit auch für mich den Weg aus. Mein Klingeln freute sie jedes Mal. Denn dass da im Dunkel des Tunnels plötzlich ein unbeleuchteter Radfahrer auftauchen könnte, war für alle sichtlich überraschend. Zum Glück war der Schotterbelag gut festgewalzt. Ich klinkte mich nur ein paar Mal sicherheitshalber kurz aus den Pedalen aus. Von Vorteil war auch, dass das Ende des Tunnels als kleiner Lichtfleck immer erkennbar war. Darauf fokussiert war das Geradeaus-Radeln im Dunkeln ganz gut möglich.

 

21. Mai 2022

Ein Vogel ganz in Rot

Gebraucht hätte ich einen kleinen Gang schon gestern. Doch die Kette wollte nicht auf das größte Ritzel springen. Es geht zwar nur leicht hügelig dahin. Aber hie und da kommen überraschend ein paar kurze steile Rampen. Und da wäre der erste Gang für ein paar Meter hilfreich. Mit Tipps zur Einstellung von meinem Radhändler versorgt wollte ich heute unterwegs die Schaltung nachjustieren. Doch leider fehlte mir bei meinem Werkzeug der passende kleine Inbus-Schlüssel. Den muss ich mir hier erst noch besorgen, keine Ahnung wo. Vielleicht eilt es auch gar nicht. Die heutigen Anstiege bin ich auch so gut hochgekommen. Und vielleicht wird das Gelände ja mal offener und weiter.

 

Die letzten Tage hat mich ein rostroter kleiner Vogel begleitet. Unvermutet ist er immer wieder zwischen dem Grün der Bäume aufgetaucht. Richtig nahe bin ich ihm nicht gekommen. Doch mit seiner Farbe war er total auffällig. Entlang eines kleinen Baches im lichtgrünen Wald war er mal links, und dann wieder rechts von der Straße zu entdecken. Oder er hatte die Straße über mir unterm sonnengefluteten Blätterdach überflogen. Am Abend hatte ich ihn dann gegoogelt. Es ist ein Rotkardinal, der im Osten der USA bis nach Mexiko heimisch ist. Spechte gibt es hier in Virginia übrigens auch. Beim Stehenbleiben für ein paar Fotos habe ich sie immer wieder klopfen hören. Das hat mir gefallen.

 

Im Gegensatz zu den ersten Tagen mit dem Verkehrslärm gibt es hier in dieser ländlichen Gegend der Appalachen fast nur Naturgeräusche. Das Bachmurmeln ist richtig wohltuend. Meine Route führte mich nämlich den ganzen Tag immer wieder an kleinen Bach- oder Flussläufen entlang. Aber es gibt noch ein weiteres Geräusch, dem man hier scheinbar nicht entkommen kann: Rasenmähertraktoren oder Rasentrimmer. Ohne einem solchen Gerät ist hier offensichtlich nicht auszukommen. Rund um die Häuser muss einfach alles großflächig glatt und kurz gemäht sein. Dann kommen die kleinen Nationalflaggen und die vielen Autos vor jedem Haus noch besser zur Geltung. Und wenn mich heute ein Pickup mit Anhänger überholte, dann hatte jeder einen großen Rasenmäher geladen.

 

22. Mai 2022

Musiklärm und Regenfront

Sonntagmorgen. Frühstart. Denn der Wetterbericht sagt für den Nachmittag Regen an. Aus der Stadt hinaus ist noch gar nichts los. Es ist alles ruhig. Die breiten mehrspurigen Straßen schauen total verlassen aus. Das wird erst anders als ich die Autobahn erreiche. Meine Route führt mich zum Teil parallel zu ihr. Oder ich muss sie mehrmals queren. Da ist dann nichts mehr von sonntäglicher Ruhe zu merken. Auch Lastwagen sind unterwegs. Ich meine, fast gleich viel wie an einem Werktag.

 

Etwas Lärm gab es auch, als ich irgendwann eine Kreuzung erreichte. Schon von weitem war Musik zu hören. Und je näher ich zur Ampel kam, desto lauter wurde sie. Es waren zwei Harley-Fahrer. Einer hatte Musik laufen, möglicherweise gar volle Lautstärke. Mir kam es jedenfalls so vor. Ich deutete ihm Daumen hoch rüber, im Takt zu seiner mir unbekannten Musik. Doch er war gerade aufs Anfahren konzentriert. Da war dann der Motorenlärm noch lauter als die Musik. Nur bei den Gangwechseln war sie leiser werdend aus der Entfernung wieder zu hören.

 

Mittags erkundigte ich mich bei einem Tankstellenladen wegen des Werkzeugkaufes für meine Schaltung. Sie schickten mich ein paar Querstraßen weiter. Und bei Harbour Freights wurde ich tatsächlich fündig. Sie hatten die gewünschte Inbusschlüsselgröße. Und ich war im Laden gar nicht allein am Einkaufen. Sonntags haben hier auch solche Läden offen.

 

Am Nachmittag verfinsterte sich dann der Himmel. Binnen kurzer Zeit zogen riesige schwarze Wolken auf. Der Wetterbericht hatte sie schon für etwas früher angekündigt. Ich zweifelte, ob ich es wohl trocken bis zur nächsten Stadt schaffe. Doch just als die ersten Tropfen fielen, kam ich bei einem Tankstellen-Motel vorbei. Also verkürzte ich meine Etappe, und war um das Dach gleich froh. Denn beim Einchecken peitschte der Wind den Regen waagrecht dahin. Es sei für diese Jahreszeit hier so üblich, meinte der Mann an der Rezeption. Und dann schob er mit einem Besen das Wasser aus den Lachen des außenliegenden Zugangsweges zu den Zimmern.

 

23. Mai 2022

Motelwechsel und Garderobenwerkstatt

Nur eine halbe Stunde am Rad. Dann gab ich auf. Ich überließ dem Regen den Vortritt, und suchte in der nächsten Ortschaft ein Motel. Bis dorthin wollte ich eigentlich schon gestern fahren. Nur kam mir auch da der Regen dazwischen. Doch so sehr ich gestern um die Unterkunft froh war, unbedingt länger bleiben wollte ich dort keinesfalls. Das Haus war mehr als nur abgewohnt, und ich fühlte mich auch nicht wohl. Jetzt gibt es mal einen Pausentag. Vielleicht musste es auch deshalb regnen. Denn die ersten paar Tage saß ich immer recht lange am Rad, und sammelte kräftig Kilometer.

 

Am Nachmittag probierte ich mich dann an der Feinjustierung der Schaltung. Den dafür nötigen kleinen Inbusschlüssel hatte ich mir ja schon gestern besorgt. Doch nur mit Fahrrad auf den Kopf stellen kam ich nicht klar. Da hatte ich die Drehrichtung und die Schraubenzuordnung nicht unter Kontrolle. Ich behalf mir mit dem Spannen der Wäscheleine zwischen Garderobe und Badtür. An der Leine das Fahrrad am Sattel aufgehängt konnte ich problemlos schrauben und das Rad durchdrehen, mir sogar im Spiegel dabei zuschauen. Nach längerem Hin und Her schaffte es die Kette dann aufs größte Ritzel. Das Einstellen war gelungen. Damit sollte ich für künftige Anstiege besser gerüstet sein. 

 

24. Mai 2022

Bibelstunde und Cowboys

Der Blick aus dem Fenster am frühen Morgen ließ mich zufrieden in den Tag starten. Der Regen hatte aufgehört. Meine norwegische Yr-Wetter-App hatte es so angekündigt. Das passte mir gut. Das Rad frisch aufgepumpt und mit ausgeruhten Beinen legte ich gleich flott los. Es war noch fein kühl. Etwas Sonne ließ sich auch schon erahnen. Meine Route führte mich entlang eines Flusses mit dunkelbraunem Wasser. Ein großer Kontrast zum grünen Farmland. Nur in den Wiesen stand vereinzelt klares Wasser vom letzten Regen. Viele Scheunen waren verfallen und aufgegeben. Das Land ist hier nur sehr dünn besiedelt.

 

Irgendwann am Vormittag kamen mir zwei Radfahrer entgegen. Es war ein amerikanisches Paar. Es entwickelte sich ein spannendes Gespräch über unsere Routen. Und irgendwann schwenkten sie zur Religion über. Sie gaben mir einen kleinen Folder ihrer Kirche. Der Weg zu Gott sei einfach, man müsse sich nur dafür entscheiden. Zum Abschied sprachen sie ein Gebet für mich, und wünschten mir Gottes Segen. Im Leben und auf der Straße könne man ihn immer gebrauchen, und bei einer Tour wie meiner sowieso. Ich war gerührt.

 

Mittags machte ich mit Pizza bei einer Tankstelle Rast. Als ein Pickup mit großem, vergitterten Anhänger vorfuhr, verschluckte ich mich fast bei einem Bissen. Denn aus dem Auto stiegen zwei richtige Cowboys aus. Sie trugen braune Leder-Chaps über den Jeans, und Sporen an den Stiefeln. Im Hänger führten sie zwei gesattelte Pferde und ein Quad mit. Während ich für die Geldtasche in meine Lenkertasche greifen muss, hatte sie einer der beiden in der Satteltasche am Pferd eingesteckt. Er musste also zuerst in den Hänger zum Pferd, bevor er in den Tankstellenladen ging. Heraus kamen die beiden dann mit je einer kleinen schwarzen Styroporbox. Keine Ahnung was sie sich als Jause gekauft hatten. Am Pickup vorne hatten sie jedenfalls ein großes Schild: Eat Meat.

 

Später fuhr ich durch bewaldetes Niemandsland. Doch zum Fahren war es richtig toll. Es war hügelig und kurvig. Reichlich Höhenmeter gab es noch dazu, fast schon zu viel für einen Tag. Einmal kreuzte gar ein Rotluchs meinen Weg. Während er mir keine Aufmerksamkeit schenkte und schnell auf seinen dicken Pfoten wieder im Wald verschwand, war ich dann doch mehr erstaunt. Am Abend meinten sie im Motel, dass es viele Bobcats in dieser Gegend gäbe, und es nichts Besonderes sei. Und dass die Internetverbindung hier in dieser Ecke von Virginia nur ganz schwach sei, sei ebenfalls normal. Nicht normal war jedoch, dass ich keine Fotos vom heutigen Tag auf meiner Kamera fand. Ich hatte gestern einfach vergessen, die Speicherkarte wieder einzulegen.

 

25. Mai 2022

Verrücktes Amerika

Schon bald nach dem Losfahren überholte mich ein gelber Schulbus. Und gleich hatte sich für die nächsten Kilometer ein Gedanke festgesetzt: Hier wird alles getan, dass die Schüler sicher in die Schule kommen. Gelbe Busse mit Blinklicht und Überholverbot beim Halten, Schülerlotsen zur Verkehrsregelung rund um die Schule, und wahrscheinlich noch einiges anderes mehr. Doch wenn die Schüler dann sicher dort sind, passieren genau dort die schlimmsten Sachen. So wurden gestern in Texas viele Schüler einer Klasse von einem jungen Mann erschossen. Einige Tage vorher ebenso woanders. Und als ich unlängst in Blacksburg nächtigte, wies mich der Mann an der Rezeption auf eine gleiche tragische Geschichte in einer der Schulen der Stadt vor vielen Jahren hin. Verrückte Welt, dachte ich mir, und konnte diesen Gedanken dann trotz kräftigem Pedalieren für einige Zeit nicht mehr loslassen.

 

Kentucky setzte sich landschaftlich gleich fort wie Virginia aufgehört hatte. Viel Wald, viele Hügel, sich windende Täler. Als ich so ein kleines enges Tal entlang eines Bachlaufes hochfuhr, begleitete mich Hahnenkrähen. Sie reichten mich offensichtlich von Haus zu Haus weiter. Es roch sehr nach Hühnermist. Kaum war ich bei einem Haus vorbei und hörte das Krähen nur noch entfernt im Hintergrund, setzte es von neuem beim nächsten Haus an. So ging es fast das ganze Tal lang hoch. Und falls mal kein Hahn am Krähen war, so wurden sie von Hundegebell abgelöst. Da war ich froh, dass sie entweder an der Leine oder in einem Zwinger hinter Gitter waren. Denn einige von ihnen gebärdeten sich wie wild, richtig furchteinflößend.

 

In einem der nächsten Verbindungstäler war ich offensichtlich in einer total heruntergekommenen Gegend unterwegs. Gab es davor noch Hinweisschilder am Weg, dass Müll wegwerfen bei Strafe verboten ist, so traf ich hier auf eine total vermüllte Gegend. Nur Ramsch, Müll, ausgeschlachtete Autos, desolate Häuser, Abfall noch und noch. Dazu immer wieder schwelende Glutnester von verbranntem Müll. Oder Halden von entsorgtem Hausrat irgendwo zwischen den Häusern und Bäumen. Einfach so, von einem schönen Tal zum nächsten, dazwischen ein Kentucky das man nicht für möglich halten will. In Virginia hatten sie auf den Nummerntafeln bei den Autos den Satz stehen: Virginia is for lovers. Hier in Kentucky gab es keinen Werbespruch. Kein Wunder warum nicht.

 

Vom Wetter her war es am Nachmittag unangenehm heiß. Ich war um den Schatten der Bäume und des Waldes richtig froh. Doch eine Überraschung gab es auch. Bei einer Straßenausweiche stand ein Mann neben seinem Auto. Er deutete mir an zu halten. In der Hand hatte er einen kleinen Getränkekarton mit zwei Limonadeflaschen. Er meinte, dass es sehr heiß sei und ich vielleicht um ein Getränk froh. Er bot mir eine der Flaschen als Stärkung an. Er hätte mich vorhin überholt, und als begeisterter Wanderer wisse er, dass auch Radfahrer Durst hätten. Er kenne es von seinen Trails hier in der Gegend. Und wenn man hier Radfahrer sehe, dann würden sie immer lange Touren machen. Da war ich dann wirklich staunend, und überrascht. Der Saft schmeckte so wie angekündigt. Süß, weil mit viel Zucker, doch erfrischend auch, weil das Wetter so heiß. Keine Ahnung, ob der Mann noch andere Radfahrer mit seiner roten Limonade unterwegs überraschte. Ich meinte, heute allein am Weg gewesen zu sein.

 

26. Mai 2022

Pausentag

Am frühen Morgen die Wetter-App rauf und runter gescrollt, und dann weiter liegen geblieben. Mit der Decke überm Kopf war das Plätschern draußen nicht zu hören. Und als es später dann kurz mal aufhörte, hatte ich mich schon an die Decke gewöhnt. Also nichts gemacht heute. Habe das Radeln einfach auf morgen verschoben.

 

27. Mai 2022

Radeln zu dritt mit Regen

Der Wetterbericht verhieß nichts Gutes für den heutigen Tag. Egal in welche Richtung ich auch hätte fahren wollen, es war überall Regen angesagt. Also nahm ich mir vor, weiter meine Richtung gegen Westen beizubehalten. Vom Regen der Nacht war die Straße noch nass. Nebelschwaden lagen in der Luft. Das Gras am Seitenrand war schwer und hing weit über den Rand herein. Es kitzelte kalt, wenn ich es mit den Beinen streifte. Aus den Seitengräben hatte es immer wieder Laubreste und Sand auf die Straße gespült. Dennoch war es fein, hügelig und kurvig durch den Wald zu fahren. Einzelne Vogelrufe waren sehr laut. Für mich hörte es sich so an, als ob sie einander zurufen würden: Hey, schau, da kommt einer am Rad und müht sich aufwärts. Auch die Sonne spielte kurz mit, und zauberte hie und da tolle Lichtstimmungen in die Landschaft.

 

Irgendwann am Vormittag holte mich dann der Regen ein. Zuerst tröpfelnd, und dann schnell in Dauerregen übergehend. Es war etwas mühsam, die Steigungen in der Regenkombi zu bewältigen. Von außen wurde ich zwar nicht nass, doch vom Schwitzen schon. Und später kam ich dann auch noch wegen der Hunde ins Schwitzen. Die sind hier echt arg. Lassen einem keine Ruhe. Dafür ließ dann der Regen wieder nach. Doch Spritzer zwischendurch gab es später immer wieder.

 

Bei einer Kreuzung holte ich zwei amerikanische Radfahrer ein. Wir waren vor zwei Tagen schon mal in einem Motel kurz in Kontakt. Und über das zufällige Wiedersehen jetzt freuten wir uns sehr. Wir fuhren dann zu dritt den Rest des Tages weiter, und tratschten am Rad. Sie haben sich die Transamericana vorgenommen. Sie führt von Virginia 6.800 Kilometer quer durch den Kontinent bis nach Oregon im Westen. Spannend war für mich, dass sie es als Vater und Sohn miteinander angehen.

 

Bei einer kurzen Rast an einer Tankstelle mussten wir dann zu dritt gleich kräftig anpacken. Ein älterer, hagerer Pensionist sprach uns an, ob wir ihm beim Umladen eines großen Rasenmähers auf seinen Hänger helfen können. Er hätte sich gerade erst die Schulter verletzt, und brauche deshalb Unterstützung. Eine Spedition hatte den Mäher mit einem großen Truck bis zur Tankstelle angeliefert, wo er ihn übernehmen wollte. Mit vereinten Kräften schafften wir dann die Holzpalette vom Truck auf den Hänger. Das war mal eine interessante Abwechslung zum Radeln.

 

28. Mai 2022

Ein Falke auf Straßenjagd

Bei unergiebigem Nieseln steige ich etwas später als sonst aufs Rad. Ich habe mir am Morgen mehr Zeit gelassen, bin ohne Eile los. Dennoch überhole ich schon bald zwei amerikanische Ladies. Sie sind auf einer regionalen Tagestour unterwegs. Mit ihren purpurfarbenen Jacken und den langen weißen Stutzen bis an die Knie sind sie optisch ein toller Kontrast zum satten Grün der Hügel. Die Landschaft gefällt mir heute ausgezeichnet. Es geht zwar nach wie vor mit leichtem Auf und Ab dahin. Doch statt dem Wald überwiegt jetzt Farmland. Man sieht in die Weite. Alles wirkt offen. Zwischenzeitlich ist auch die Sonne durchgedrungen. Der Himmel zeigt ein zartes Blau mit verstreuten Wolken. Die Straße ist nur wenig befahren, der Asphalt gut. Es lässt sich super radeln. Ich genieße den Tag.

 

Doch ich bin nicht der Einzige, der es sich gut gehen lässt. Auch die Hunde scheinen es heute wieder zu genießen. Sie gehen ihrem gewohnten Programm bei Radfahrern nach: Erspähen, knurren, bellen, mit Volldampf loslegen, dem Radler einen Schrecken einjagen, ihm nachjagen, versuchen zuzubeißen. Immer wieder schreie ich lauthals mein No. Meist wirkt es. Oder ich bin schneller als die Hunde. Nur bei einem war ich nicht erfolgreich. 

 

Es war Hawk, eine schwarzbraune Straßenmischung mit markantem Gebiss. Er brachte mich mit seinem Anspringen meiner Gepäcktaschen fast aus dem Gleichgewicht. Von einer entfernten Terrasse rief mir jemand zu, dass der Hund freundlich sei und nichts tue. Doch ich erlebte gerade das Gegenteil. Schließlich kam die Besitzerin, eine zahnlose, ungepflegte Frau in Flipflops mir mit Zigarette und halbgefüllter Kaffeetasse entgegen. Sie erklärte mir, dass der Hund noch jung sei, und sie ihn erst noch trainieren müsse. Wenn ich das nächste Mal vorbeikomme, dann soll ich ihn beim Namen nennen und ihn ohne Stehenbleiben zurückweisen. Er heiße Hawk, wie der Vogel. Sie würde ihn derzeit auf „Hawk, go back“ trainieren. Es habe schon ein paar Mal funktioniert. Na ja, dachte ich mir, wahrscheinlich muss ich dann für Hawk noch meine amerikanische Aussprache besser trainieren, damit ich mich hier wieder vorbei traue.

 

Auf den Wiesen waren die Traktoren am Weg. Nach dem Regen der letzten Tage mähten die Bauern jetzt das Gras. Sie hatten keine so großen Maschinen wie bei mir zu Hause. Normale Traktoren, obwohl die Felder riesengroß. Bei einer der Wiesen fuhren sie zu dritt mit den Mähwerken hintereinander her. Es tönte fast wie bei einem Bienenstock. Ein lautes Surren lag in der Luft. Später surrte es dann auch in einer Kleinstadt. Dort war ein Oldtimertreffen im Gang. Doch das Surren war eher ein brabbelndes Knattern und Dröhnen. Und mit der Straßenmusik, den alten, herausgeputzten, aufgemöbelten Autos, den schrägen Ausstellern und bunten Besuchern wurden alle gängigen amerikanischen Klischees bedient, die man sich so vorstellen kann.

 

29. Mai 2022

Zeitzonenwechsel und ein Plattfuß

Es ist Sonntag. Kirchenglocken höre ich zwar keine. Doch Kirchen gibt es an jeder Ecke. Und jede ist von einer anderen christlichen Gemeinschaft. Eine große Leuchtreklame mit einem Motto zum Nachdenken oder einem Bibelspruch findet sich vor jedem dieser Gebäude. So habe ich nicht nur heute am Sonntag im Vorbeifahren Gelegenheit, zumindest ein bisschen auch ein paar religiösen Gedanken nachzuhängen. Obwohl es meist nur wenige Worte zum Lesen sind, als Aussage sind sie immer klar und gehen tief.

 

Obwohl spät los herrscht auf der Hauptstraße eher wenig Verkehr. Meist sind es Pickups mit Anhängern. Entweder haben sie Boote verladen, Motocross-Maschinen, Quads, oder auch Griller und Rasenmäher. Matratzen bekomme ich auch zu sehen. Nur Fahrräder finden sich keine. Doch just in dem Moment, als ich mir das dachte, kam tatsächlich ein Auto vorbei, das zwei Mountainbikes geladen hatte. Die dicken Vorderräder hingen über die Ladefläche hinaus nach hinten runter. Ok, es gibt sie demnach doch, wenn auch nur auf Autos verladen.

 

Von einigen gemähten Wiesen duftet es nach frischem Heu. Immer wieder wird mir diese Duftnote zugetragen. Doch dazwischen gibt es auch ein paar Störungen des Wohlgeruchs. Verwesende, überfahrene Kleintiere auf der Straße oder deren Rand. Manchmal sind sie noch erkennbar. Oft jedoch platt und nur noch Fellknäuel. Eichhörnchen, Füchse, Marder, Vögel, Schildkröten, Schlangen, Bisamratten, und anderes mehr. Ich mag da gar nicht hinschauen, wenn ihre Kadaver auf der Straße liegen. Entfernen tut sie jedenfalls niemand.

 

Weil es Sonntag ist, sind auch mehr Motorradfahrer unterwegs. Zumeist sind es amerikanische Maschinen. Die Fahrer immer ohne Helm. Ein Stirnband muss als Schutz zum T-Shirt genügen. Und laut müssen sie natürlich auch sein. Doch mir kommt vor, dass viele Allrad-Pickups noch ein paar Dezibel mehr drauf haben, und dickere Reifen sowieso. Keine Ahnung, wieso das hier so sein muss.

 

Das Thema Reifen beschäftigt mich dann am Nachmittag nochmals, und zwar eingehend. Irgendwann verspüre ich nämlich einen schwammigen Hinterreifen. Ich bereite mich schon auf einen Reifenwechsel vor. Doch ich sehe nirgends Dichtmilch austreten. Also belasse ich es mit Aufpumpen, und schaffe so wohl weitere zehn Kilometer. Doch dann ist wirklich Pause. Mit der Pinzette entferne ich Reste eines Glasscherbens. Beim Aufpumpen wirft die Dichtmilch nur Blasen. Also muss ich doch einen Schlauch einsetzen. Obwohl ich bei der Neubereifung vor Tourstart eine ganze Flasche Dichtmilch einfüllte, zeigen sich beim Einsetzen des Schlauchs nur noch wenige Tropfen davon. Also bei der Variante Schlauchlos-Fahren blicke ich noch nicht richtig durch, oder habe ich alle Finessen gecheckt. Seit heute 14 Uhr 30 fahre ich hinten jedenfalls wieder mit Schlauch. Wobei ich mit dem Reifenwechsel keine Zeit eingebüßt hatte. Der Zeitzonenwechsel auf die inneramerikanische Sommerzeit kam mir gelegen.

 

Etwas später kam mir ein Rennradfahrer in einem markant gelben Trikot entgegen. Er war richtig schnell unterwegs. Er hatte sicher genug Luft in den Reifen. Und vielleicht fuhr er sogar gegen die Uhr und wollte den Zeitzonenwechsel wett machen. Der Trikotfarbe nach muss es wohl Lance Armstrong gewesen sein. Da musste ich schmunzeln. Obwohl er schon mehr als 15 Jahre vom Rennradbusiness weg ist, habe ich den Namen immer noch voll präsent, und assoziiere ich ihn mit einem gelben Trikot.

 

30. Mai 2022

Gepflegtes Farmland

Pipifeines Wetter. Dazu eine Route zum Träumen. Hey, der heutige Vormittag war genial. Quer durch weites Farmland auf kleinen Straßen ohne Verkehr. Das hat mir voll gefallen. Ich bleibe immer wieder für einen Schnappschuss stehen. Wiesen oder Getreidefelder in der unteren, und in der oberen Bildhälfte ein paar Schäfchenwolken vor blauem Himmel. So etwas mag ich sehr. Eine rote Scheune mit glitzerndem Wellblechdach kann auch noch drauf sein. Oder die schwarzen Kühe mit ihren Kälbern rund um große Wasserlöcher als Aufputz zur grünen Landschaft. Hier finde ich von allem genug davon.

 

Erst gegen Mittag komme ich zu einer kleinen Stadt. Bis dahin war auf dem Land nichts los. Zwar gab es immer wieder einzeln gelegene Häuser entlang der Straße, doch nie ein Zentrum oder einen Laden. So schaut es also hier aus, auf dem Land in der Grenzregion zu Tennessee, denke ich mir. Gepflegte Häuser mit gemähtem Rasen rund herum, großzügig und weit. Und falls das Gras mal irgendwo etwas höher war, dann war auf dem anderen Gartenteil schon jemand am Mähen. Ein freundliches Handzeichen zu mir war da meistens mit drin, auch wenn sie sich sonst voll aufs Mähen konzentrierten. Denn die Maschinen können im Stand wenden, bei gleichem Tempo wie geradeaus. Es scheint Effizienz gefordert, wenn die Rasenflächen so groß.

 

Bei einem großen Wasserloch nah zur Straße eines riesigen Getreidefeldes scheue ich ein paar Hirschkühe auf. Sie springen in alle Richtungen davon. Mit großen Sprüngen zwischen den Halmen eintauchend, dass nur noch die Ohrenspitzen hervorschauen. Und dann wieder den ganzen Körper in der Luft schwebend über dem Getreide. Schnell sind sie weit weg von mir. Nur einer kann ich länger zusehen. Sie folgt einer Traktorspur im Feld geradeaus, bis sie dann auch irgendwo seitlich untertaucht.

 

Kurz vor Nashville macht ein rothaariger kleiner Junge auf einem für ihn viel zu kleinen Kinderrad ein Wettrennen mit mir. Vor den Gebäuden eines Anwesens verläuft eine schmale Straße parallel zu meiner. Als der Junge mich entdeckt, nimmt er gleich Fahrt auf. Den Kopf immer zu mir gewandt, versucht er mein Tempo zu halten. Ich animiere ihn mit Handbewegungen, noch schneller zu treten. Doch das Kinderrad gibt nicht mehr her. Also verlangsame ich meine Fahrt bis er sein Straßenende erreicht hat. Das Wettrennen geht ex aequo aus, mit Vorteil Fotofinish für ihn. Zufrieden winken wir einander zu.

 

31. Mai 2022

Ein Salto mit Anlauf 

Beim Reinfahren nach Nashville dachte ich mir, dass ich da vielleicht Musik zu hören bekomme. Doch es war nur jene von Autos zu hören. Ich schwamm im Frühverkehr mit. Auf der Karte ließen mich die vielen Kreuzungen, Schleifen und Kreisel zweifeln, ob ich es durch die Stadt schaffe. Aber mit immer rechts bleiben löste es sich in Wohlgefallen auf, und ich war schnell im Zentrum. Die Hochhäuser boten willkommenen Schatten. Ihre Spiegelfenster glitzerten in der Sonne. Aber ein paar Blocks und Ecken weiter gab es in einer Nebenstraße am Gehsteig Zelte von Obdachlosen. Ohne Glitzern, Amerika ein Land der Gegensätze. An einem Mann, der mitten am Gehsteig lag und womöglich schlief, fuhren alle vorbei. Niemand nahm Notiz. Ich fuhr auch vorbei, beließ es beim mich wundern.

 

Später gelangte ich entlang eines schattigen Parks raus aus der Stadt. Der Verkehr dünnte sich rasch aus. Was blieb waren die gediegenen Häuser mit ihren großzügigen, gepflegten Rasenflächen und den Fahnen bei den Eingängen. Ein paar Mal kam ich bei neu errichten Siedlungen vorbei. Die gleich ausschauenden Holzhäuser waren noch nicht bezogen. Verdichtetes Bauen gibt es hier jedenfalls nicht. Aber immerhin sind die Häuser in Rufweite zueinander. Und ein großer Rasenmäher wird nach dem Einzug sicher die erste Anschaffung sein.

 

Mein tägliches Hundeabenteuer gab es heute natürlich auch. Ein großer, massiger Terrier machte mit einem kräftigen Bellen auf sich aufmerksam, und stürmte sofort los. Doch noch bevor ich schreckerstarrt irgendwie reagieren konnte, hatte das Tier schon einen Salto rückwärts gemacht. Es war an einer Laufleine angebunden, und hatte wohl selbst darauf vergessen. Es schleuderte ihn in die Luft und dann knallhart auf den Boden. Das Bellen war ihm vergangen. Doch weiter provozieren wollte ich ihn auch nicht. Ich schaute, dass ich möglichst schnell wegkam.