Cycling Britannia - Radfahren in Europas Nordwesten

Wohin die Reise

In den Vorjahren war das Finden eines Tourenzieles oder einer interessanten Route manchmal eine längere Geschichte. Meist kam es erst spät in Gang. Oder das Abwägen der vielen Ideen gestaltete sich öfters schwierig. Bis die finalen Gedanken ausgereift Konturen auf der Karte annahmen, dauerte es seine Zeit. Und meist hielt ich mich beim Nachfragen von Freunden auch recht lange bedeckt. Doch dieses Jahr ging es gänzlich anders her. Schon im Dezember letzten Jahres nahm das Thema Fahrt auf, und Mitte Jänner hatte ich mich weitgehend festgelegt. Das Ergebnis war zwar auch für mich überraschend, fand aber Gefallen.

 

Begonnen hatte es mit der Instandsetzung eines Erbstückes, dem elektrischen Schweißapparat meines Vaters aus dem Jahr 1955. Er war zwar funktionstüchtig, doch die Isolierungen der Kabel waren brüchig und mussten ersetzt werden, ebenso der Elektrodenhalter und die Masseklemme. Ich ließ mich von einem Freund beraten, der auch gleich kundig Hand anlegte, und mir bei der Beschaffung der Neuteile behilflich war. Mehr als übers Schweißen redeten wir danach jedoch über mögliche Tourenziele fürs Radfahren. Südamerika führte mein Ranking noch nicht besuchter Regionen an. Und Südamerika war für meinen Freund auch gleich das Stichwort, worüber er viel zu erzählen wusste. Es waren Geschichten über frühe Auswanderer. Und am nächsten Tag schon konnte ich noch mehr Details in einem von ihm erhaltenen Buch über Dreizehn Linden in Brasilien nachlesen. Südamerika wäre als gar nicht so eine exotische Destination, ging es mir durch den Kopf, wenn sie schon vor fast 100 Jahren nach Treze Tillias fuhren. Damals waren es zwar keine Rad- und Urlaubsreisen, doch als eine vage Idee nahm dieses Ziel für mich konkrete Formen an.

 

Nur die weiteren Recherchen danach waren ernüchternd. Ich fand zwar jede Menge schwärmerische Berichte über Abenteuerreisen durch den ganzen südamerikanischen Kontinent. Doch die aktuellen Reise- und Sicherheitshinweise und einige Medienberichte zur allgemeinen Situation in manchen Ländern im Norden bremsten meinen Tatendrang. Keine Ahnung, wieso ich ausgerechnet auf solche Informationen gestoßen bin. Bei meinen bisherigen Reisen hatten sie mich nie interessiert. Wahrscheinlich ist es das derzeitige Zeitgeschehen, das uns für solche Dinge sensibler macht und zum Nachdenken bringt. Und wenn bei mir mal grundlegende Zweifel geschürt sind, dann will das Planen keine große Fahrt aufnehmen.

 

In einem abendlichen Gespräch mit meiner Tochter kam dann plötzlich doch eine Festlegung. Ihre Hinweise auf die instabile Situation in Teilen Südamerikas und auf meine mangelnden Spanischkenntnisse gaben den Ausschlag. Wieso also nicht in Europa bleiben und von daheim aus losradeln? Überall schon gewesen, war der erste Gedanke. Doch mit einem Blick auf die Karte entdeckte ich dann aber staunend eine bisher vernachlässigte Ecke: Ein Inselstaat im Nordwesten Europas. Und so war meine Tour für dieses Jahr auch schon gefunden: Cycling Britannia ist mein Thema. Mit der Einbeziehung von Irland und einer etwas hin und her mäandernden An und Rückreise könnte es durchaus „lang. weit und bsundrix“ werden. Südamerika kann also warten.

 

Die Vorbereitung

Die Vorbereitung fürs Losradeln war schon gewohnte Routine. Es war so eine Art Copy & Paste aus den Listen der Vorjahre. Was hat sich bewährt, war das Motto beim Durchsehen und Erstellen meiner Packliste und der Servicearbeiten am Rad. Und irgendwann gegen Mitte April legte ich mich auch zeitlich fest: Start von daheim mit Beginn des Monats Mai. Bis dahin hatte ich meinen Mais und die Kartoffeln im Acker schon ausgebracht, und war bereit und frei fürs Radla. Trainingskilometer am Rad machte ich keine. Fürs Fit sein der Beine mussten die vielen Skitouren des Winters reichen. Und das lange Sitzen im Sattel wird sich hoffentlich mit der Zeit auch wieder eingewöhnen lassen. Mal schauen was sich beim Radla dann ergibt. Auch daheim ist man vor Überraschungen ja nie gefeit.

 


Der Start - Es geht los von daheim

2. Mai 2025

Die Kompassnadel zeigt westwärts

Ein herrlicher Sonnenmorgen wartet auf mich. Statt einem Frühstück richte ich mir eine Jause zum Mitnehmen. Doch mit ihrem Verstauen in meine Taschen habe ich Mühe. Das optimale Packen muss ich erst wieder lernen. Ich teile die Jause also auf beide Taschen auf, und schwinge mich in den Sattel. Ein schneller Blick zurück aufs Haus, und dann mache ich die ersten Tritte westwärts. Am Anfang geht es noch etwas wackelig dahin. Auch an das Fahren mit Gepäck muss ich mich erst wieder gewöhnen. Doch das Geräusch der Reifen auf dem Asphalt gefällt mir.

 

Der Weg entlang der Wiesen ist mir bekannt. Schnell tauchen am Horizont die Schweizer Berge auf. Schneereste glänzen in der Sonne. Ich durchquere Liechtenstein. Auf den frisch umgeackerten Feldern wird Mist ausgebracht. Auch der schöne Radweg bekommt einiges davon ab. Ich fahre Slalom. Die Stimmung gefällt mir. Nur mein Navi will noch nicht mitmachen. Die Routenberechnung stürzt immer wieder ab. Vielleicht hätte ich das vor dem Abfahren daheim noch checken sollen. Doch verfahren kann ich mich hier nicht. Entlang des Walensees geht es nur geradeaus. Links senkrechte, schroffe Felsen, und rechts ein steil abfallendes Ufer. Ich lass mein Navi weiter Neustartrunden drehen, und konzentriere mich auf den schmalen Radweg.

 

Bei einem kleinen Geschäft mache ich mittags Pause. Das Rivella-Reklameschild hat mich angezogen. Doch die Erinnerung an die süße Limo war besser als der erste Schluck mir schmecken wollte. Mehr Freude hatte ich dann mit dem Fahren in der Linthebene. Da ging der Radweg mitten durch die großen Heuwiesen. Der Duft des schon fertig getrockneten Grases lag betörend in der Luft. Akustisch wurde die Ebene von den vielen Traktoren dominiert. Die einen zogen mit ihren Kreislern regelmäßige Schwadenmuster in die Wiesen, während die anderen am gleichen Feld schon mit den Erntewägen nachfolgten. Reger Betrieb, und ich mittendrin am freudig pedalieren.

 

Beim Zürichsee war das Ufer dann von Badenden gesäumt. Kurz überlegte ich, meinem Rad eine Abkühlung zukommen zu lassen. Oder vielmehr den Staub abzuwaschen, den es von einem langen Schotterstück abbekommen hatte. Doch es blieb bei der bloßen Absicht. Der weiße Puder machte sich nämlich auf dem schwarzen Rad gar nicht so schlecht. Eine schöne Zier des ersten Tages. Auch ich selber merkte die Anstrengung. Mein Nacken war etwas steif, und das Handgelenk schmerzte leicht vom Abstützen des Oberkörpers. Dazu war ich nach dem Absteigen am ganzen Körper ziemlich verspannt. Doch ich war mit dem Tag zufrieden. Der Start war geglückt, und die ersten Kilometer westwärts waren am Tacho.

 

3. Mai 2025

Dem Flusslauf der Aare folgend

Am Morgen war es stark bewölkt. Leichter Nieselregen ließ mich etwas später starten. Da hingen die Einer-Ruderer auf dem Zürichsee schon kräftig in den Riemen. Denen schien das bisschen Nass von oben nichts auszumachen. Ein motorisiertes Begleitboot sorgte wohl für den schnellen Rhythmus. In den vielen ineinander übergehenden Kleinstädten am Seeufer war noch nichts los. Samstagmorgenruhe kam es mir dort vor.

 

Mehr Betrieb herrschte da schon oben am Himmel. Auch wenn ich sie nicht zu sehen bekam, so war der Lärm der Flugzeuge im Landeanflug nicht zu überhören. Sie flogen im kurzen Intervall einander folgend die gleiche Schneise Richtung Flughafen. Ich zog eine andere Schneise vor. Jene durch lichte Wälder und Felder. Hügelauf und hügelab ging es für mich in leicht kupiertem Gelände auf Nebenwegen dahin, oft vorbei an Äckern mit blühendem Raps. Durch die Ortschaften hindurch wusste mein Navi Abkürzungen. Manchmal kam da bei mir etwas Misstrauen auf. Doch meine Route folgte den Hinweisschildern der Radwege. Bei einer längeren Steigung musste ich vorne auf das kleine Kettenblatt wechseln. Das Runterschalten ging leicht. Doch oben am Scheitelpunkt mühte ich mich kräftig ab, bis ich die Kette wieder am großen Ritzel hatte. Meine lädierte linke Hand schaffte es nur mit Hilfe der rechten, und somit auch in wackeligem und schwankendem Tempo.

 

In einer Kleinstadt war vor einem Kleidergeschäft eine Modeschau im Gang. Der rote Teppich reichte fast bis zur Straße. Ohne ihm und dem Hinweis auf einem großen Plakat über dem Eingang hätte ich es der Biertische und ausgelassenen Stimmung wegen auch für ein kleines Straßenfest gehalten. Im Vorbeifahren konnte ich aber leider keine Radfahrermodels ausmachen. Also ging es für mich ohne Zwischenstopp weiter. Einen solchen legte ich dann etwas später unter einem weit ausladenden Dach eines aufgegebenen Pferdestalls an der Straße ein. Es war nämlich wieder stärkerer Nieselregen aufgezogen. Ich hatte reichlich Zeit, die vielen verstaubten Plaketten an den Wänden zu studieren. Sie ließen auf einen erfolgreichen Reiter schließen, der vor 50 Jahren auf Spring- und Jagdturnieren schweizweit Trophäen sammelte.

 

Ich hingegen sammelte am Rad bloß Kilometer. Recht viele davon am späten Nachmittag dann auch am Flusslauf der Aare entlang. Sie bestimmte meine Fahrtrichtung, und wand sich mit wenig Gefälle und kaum merkbarer Strömung durch die Landschaft. Richtig breit wurde sie vor der Staustufe eines Kraftwerks. Mit der Sonne kam da auch ihre stark ins grünliche gehende Farbe kräftig zum Strahlen. Die Aare machte auch aus meiner Perspektive eine gute Figur. Doch als bei einem Gebäude ein Hubschrauber abhob, wäre ich nur allzu gerne mitgeflogen und hätte die Stimmung des Flusses gerne auch von oben eingefangen.

 

4. Mai 2025

Im Regen in die Schweizer Hauptstadt

Ein gemischter Achter mit Steuerfrau zog am Morgen meine Aufmerksamkeit am Fluss auf sich. Auf dunklem Grün sah und hörte ich rhythmische Ruderschläge ins glatte Wasser klatschen. Das schmale lange Boot war entgegen der leichten Strömung parallel zu mir unterwegs, bis der Radweg in einen Feldweg überging und vom Flussufer wegführte. Dort erwartete mich angenehm duftender Raps. Sein zartes Gelb war ein schöner Kontrast zum hellen Grün der abgemähten Wiesen und zum Dunkelgrün der Kornfelder daneben.

 

Irgendwann am Vormittag überließ die wärmende Sonne dann dunklen Wolken den Vortritt. Weiter vorne zog schon bald eine Regenfront auf. Ich war in ihre Richtung unterwegs, und schnell auch mittendrin. Die Regenkombi musste ein erstes Mal raus. So richtig schmecken wollte es mir nicht. Doch besser als nass werden war es allemal. Auch wenn es bei meiner Einfahrt nach Bern dann kurzfristig auftat, entschloss ich mich dennoch für ein Beenden der Etappe. Die Lust, mich auf einen Kampf mit dem Wetter einzulassen, hielt sich in Grenzen. In der Aare ließen sich zwar einige mutig und munter im Nass treiben, und später auch noch, als es wieder kräftig schüttete. Doch mir war da bereits ein wärmendes Zimmer lieber. Die zum Trocknen ausgebreiteten Regensachen machten sich als Deko auch ganz gut.

 

5. Mai 2025

Regenwetter lockt mich nicht aufs Rad

Puh, das Plätschern draußen nimmt kein Ende. Die Nacht durch, und am Morgen gleich in derselben Tonart weiter in den Tag. Auch mein mehrmaliges Checken aller Wetter-Apps bringt keine Änderung. Anhaltender Niederschlag heißt es auf allen Kanälen. Also verlängere ich meinen Aufenthalt in Bern. Vielleicht erweist sich die angesagte Bise morgen dann als Rückenwind, und ich mache ein paar Meter gut. Doch heute lockt es mich nicht aufs Rad.

 

6. Mai 2025

Mit reichlich Höhenmeter nach Frankreich

Stark bewölkter Himmel, doch trockene Straßen. Heute traue ich mich wieder aufs Rad. Allein bin ich dabei nicht. Im Frühverkehr stauen sich nicht nur viele Autos durch die Stadt, sondern es sind auch ausgesprochen viele Radfahrerinnen und Radfahrer unterwegs. Und alle dick eingemummelt. Viele mit Daunenjacken, Wintermützen unterm Helm und dicken Handschuhen. Auch ich habe eine Schicht mehr angezogen. Es ist nämlich mit 7 Grad recht frisch zum Fahren.

 

Irgendwann am Vormittag irritiert mich ein metallenes Geräusch vom Hinterrad. Bei jeder Radumdrehung ist es kurz zu hören. Auch läuft das Rad etwas unrund am Asphalt, war mein Eindruck. Mit Staunen entdecke ich dann die Ursache. Eine metallene gelbe Ansteckschleife steckt im Gummi. Als ich sie rausziehe, ist der Reifen im Nu platt. So ein riesiges Teil hatte ich noch nie aufgegabelt. Dekorativ war sie am schwarzen Gummi jedenfalls. Doch für die Dichtheit des Schlauches nicht ideal. Mein flottes Vorankommen war damit jäh gestoppt. Mit neuem Schlauch und der Anstecknadel als Andenken in der Lenkertasche ging es nach der Reparatur aber wieder in gewohntem Tempo weiter, vorbei an schwarzerdigen Gemüsefeldern und braunweißgescheckten Kühen mit Hörnern.

 

Deutlich langsamer war ich dann im Aufstieg zum Chasseral-Gebirgszug. Meine als Abkürzungen gedachten Abstecher auf Nebenwege erwiesen sich  als steile Rampen, die ich nur schiebend hochkam. Und weit vor der Passhöhe gelangte ich in dichten Nebel. Maiwetter schaut anders aus. Das Thermometer zeigte nur noch 3 Grad an. Und weil ich mich für die Abfahrt nicht wärmer angezogen hatte, war ich unten kräftig durchgefroren. In voller Montur versuchte ich mich dann in einem Cafe aufzuwärmen. Dabei traf ich auf ein Schweizer Radlerehepaar. Sie hatten sich die Umrundung der Schweiz vorgenommen, und suchten ebenfalls wärmenden Unterschlupf.

 

Einen Juchzer gab es trotz klammer Finger und tropfender Nase bei der Weiterfahrt irgendwann dennoch: Am späten Nachmittag hatte ich die Grenze zu Frankreich erreicht. Es war zwar gleich kalt wie in der Schweiz, doch das Erreichen des Tageszieles freute mich. Nur dass danach dann nochmals üppig Höhenmeter in kupiertem Gelände dazukamen, hätte nicht unbedingt sein müssen.

 

7. Mai 2025

Rolleretappe bei blassblauem Himmel

Ganz überraschend schaute in der Früh die Sonne mit ein paar zarten Strahlen vorbei. An meinem Plan, mit den Wintersachen zu starten, änderte dies nichts. Mit dem leichten Wind fand ich es nämlich ähnlich kalt wie gestern. Doch für die gute Laune war die Sonne jedenfalls hilfreich. Und auch die Tatsache, dass es fast den ganzen Tag überwiegend flach oder leicht abwärts ging.

 

Ich folge dem Fluss Doubs. Davor ging es noch ein paar Stunden quer durch Agrarland. Das war nicht nur an der Landschaft erkennbar, sondern auch an den Geschäften. Bauern brauchen Maschinen. Und hier gab es sie in allen Variationen für Groß und Klein. Maschinen, Maschinen, Maschinen, in der Hauptsache für Viehwirtschaft und die Feldbearbeitung. Dicht besiedelt war die Gegend nicht. Ein paar kleinere Dörfer mit zumeist großen Höfen an ihren Rändern oder einsam in das Land eingebettet. Ein Mal musste ich kurz auf der Straße stoppen. Ein Bauer trieb auf einem Quad sitzend seine Kuhherde quer über den Weg auf eine neue Weide. Für mich gab es ein freundliches Handzeichen als Danke und ein lautes Bon Jour. Am Land kann auch so ein Ereignis willkommene Abwechslung am Rad sein.

 

Parallel zum Fluss war über viele Kilometer ein Kanal angelegt. Die kleinen Staustufen und Wehranlagen wurden so umgangen. Doch die Schleusen schauten alle etwas in die Jahre gekommen aus. Nur an einer einzigen Anlage war gerade Betrieb. Ich konnte zwei Boote ausmachen. Sonst war am ganzen Fluss nichts los. Die paar wenigen Kähne an den Ufern schienen eher ganzjährig fix vertäut. Irgendwann tauchten auch Radwegschilder auf. Demnach folgte ich der Route EuroVelo 6, und begegnete auch vereinzelt anderen Reiseradlern. Ihre klassisch roten oder gelben Ortlieb-Taschen vorne und hinten waren schon von weitem zu erkennen. Auch wenn das Gefälle nur minimal war, so ging das Fahren flott und ohne große Kraftanstrengung. Schmunzeln musste ich, dass mein Navi auch auf dieser Strecke immer wieder rote Passagen anzeigte. Doch im Gegensatz zu gestern waren die kurzen Rampen, wenn es zu einer Brücke hochging, keine Herausforderung. Die waren fast ohne Schalten nur mit Schwung zu nehmen. Am Abend notierte ich zufrieden „Rolleretappe bei blassblauem Himmel“ in mein Tagebuch.

 

8. Mai 2025

Pipifein auf einsamen Nebenwegen durch ländliche Gegend

Bei wieder etwas wärmeren Temperaturen starte ich in den Tag. Schon bald gelange ich in einem erfrischend grünen Wald auf einen breiten Radweg. Es ist wieder der EuroVelo 6, der vom Atlantik zum Schwarzen Meer führt. Das Teilstück hier ist gut zu fahren, und auch prima ausgeschildert. Oft finden sich zudem großformatige weiße Kilometerangaben auf dem Asphalt. Je nach Streckenverlauf purzeln die Kilometer recht schnell. Oder es zieht sich, bis die nächste Marke kommt.

 

Eine Zeit lang fahre ich im Schatten von Bäumen an einem Kanal entlang. Nah zu den kleinen Ortschaften versuchen sich meist auch ein paar Fischer an ihrem Glück. Große Betriebsamkeit strahlen sie nicht aus. Eher schaut es nach gemächlicher Ruhe und wenig Aussicht auf einen Fangerfolg aus. Spannender ist das Zusehen bei einer Schleuse. Erst meinte ich, dass der große Kahn zwischen den Schleusenwänden stecken geblieben ist. Doch er bewegte sich im Zeitlupentempo vorwärts, links und rechts war wohl kaum eine Handbreit Platz als Reserve. Ich hingegen hatte da auf meiner Route viel mehr Platz. Weil kein Verkehr, war ich oft in der Straßenmitte freihändig am Dahingleiten.

 

Es war ländliche Gegend pur. Ein paar knallgelbe Rapsfelder und sonst sattgrüne Wiesen mit hie und da zumeist aschweißen Kuhherden. Später fuhr ich auch durch Weinberge. Die Rebstöcke waren außergewöhnlich klein und nieder gehalten. Ein paar Traktoren waren auch zu sehen. Sie lockerten die Erde zwischen den Spalierreihen auf, oder brachen dort die Grasnarbe um. Gerne hätte ich mich unterwegs mit etwas Verpflegung eingedeckt. Doch ein Laden war weit und breit nirgends zu entdecken. Die Weiler waren alle zumeist sehr klein, und es schienen auch viele Häuser nicht mehr bewohnt. Ich musste auf meine Notreserve an Snickers zugreifen. Abends erfuhr ich, dass heute Feiertag in Frankreich ist, und die Läden, so es sie auf meiner Route gegeben hätte, sicher zu gewesen wären. Ich war auf einem ehemaligen Bauernhof mit Fremdenzimmer untergekommen. Gastfreundlich wurde mir ein Extra-Abendessen angeboten. Die Dijon-Senfsauce zum eigenen Feldsalat war phänomenal. Am Fernseher in der Küche konnte ich nebenbei noch die Papstwahl mitverfolgen. Die ganze Welt schien sich über „Habemus Papam“ zu freuen. Ich freute mich über mein pipifeines Radeln untertags, und jetzt am Abend über das willkommene Essen. Bis zum nächsten Restaurant wären es angeblich 30 Kilometer gewesen.

 

9. Mai 2025

Hügelauf und hügelab durch grüne Landschaft

Um halb acht sitze ich wie ein Fürst am Frühstückstisch. Stolz präsentiert mir Francois als Hausherr seine selbst gemachte Marmeladenauswahl. Die Reine Claudes schmeckt mir am besten. Sie ist auch sein eigener Favorit. Das Brot hat etwas große Luftlöcher. Nicht gerade ideal für die Marmelade. Dafür schmeckt es lecker. Den Tee trinke ich aus einer großen Schüssel. Es kann gar nicht anders sein, in Frankreich. Und beim Gespräch lausche ich gespannt, welche Rassen er früher auf seinem Hof gezüchtet hat. Es waren die cremefarbenen schweren Charolais, wie sie typisch für die Gegend seien. Doch es gäbe auch viele Höfe mit den braunen Limousin. Wir kommen gut klar beim Reden. Während er auf seinem Handy die Texte zum Übersetzen eintippt oder vorspricht, kann ich wieder einen Bissen Brot zu mir nehmen, und das Ergebnis dann mit vollem Munde lesen. Eine Auffrischung meiner Französischkenntnisse gibt es also nebenbei auch noch zum Frühstück.

 

Unterwegs staune ich wie gestern schon über die vielen umgekehrt montierten oder mit schwarzen Plastikfolien verhüllten Ortsschilder. Es ist eine Protestaktion der französischen Bauern wegen fehlender politischer Unterstützung für ihre Anliegen. Ich orientiere mich beim Fahren am Navi. Und manchmal versuche ich den Text auch zu erraten, was sich wegen der unbekannten Worte und im schnellen Vorbeifahren als gar nicht so einfach erweist.

 

Als ich für kurze Zeit auf einer etwas stärker befahrenen Straße unterwegs bin, lockt mich eine Hinweistafel einer Bäckerei zur Abfahrt ins Ortszentrum. Die Tafel an der Straße war riesengroß. Die Bäckerei selbst dann klitzeklein. Der Meister werkte darin selbst am Teig, und bediente auch die Kundschaft. Mir hat dieser eine Werkraum gefallen. Sichtbares Handwerk und fein anzuschauende und duftende Produkte. Fertige Sandwiches hatte er leider nicht in seinem Angebot. Doch sein Brot schmeckte auch pur. Ich konnte mich gut gestärkt wieder auf den Weg in die einsamen grünen Hügel machen, die mich den ganzen Tag begleiteten.

 

10. Mai 2025

Einsame Wege und eine genussvolle Rast

Weingärten, Kirschbäume, Hügel, Hahnenkrähen, Taubengurren, Bäumeblühen, Kuckucksrufe. Auf wenigen Metern sammle ich beim Rausfahren aus der kleinen Ortschaft am Morgen schon viele Eindrücke. Mit der Sonne ist es richtig angenehm zum Pedalieren. Dennoch bin ich in den Waldstücken froh, dass ich die Beinlinge und den Pullover noch anhabe. Aber egal ob Sonne oder Schatten, das Dahingleiten genieße ich freudig. Mit ausgeruhten Beinen macht es immer Spaß.

 

Irgendwann schon früh am Vormittag komme ich in einer kleinen Ortschaft bei einem Lebensmittelgeschäft überschaubarer Größe vorbei. Endlich, das erste nach drei Tagen, und es hat offen. Vom Inhaber werde ich etwas kritisch beäugt, weil ich gleich ein paar Runden um seinen Obst- und Gemüsestand drehe ohne irgendwo zuzugreifen. Denn Bananen finde ich leider keine. Dafür lange ich bei anderem kräftig zu. An der Kassa denk ich mir, dass es ja fast nach einem Einkauf für eine ganze Woche ausschaut. Entsprechend lange brauche ich beim Verstauen in meine Packtaschen. Der Geschäftsinhaber wollte sich dieses Ereignis offensichtlich nicht entgehen lassen. Er kam immer wieder neugierig kurz an die Sonne vor den Laden, ob ich es denn wohl irgendwann doch schaffe.

 

Bei den Steigungen in den Hügeln meine ich, das Mehrgewicht aus dem Einkauf doch wahrnehmen zu können. Aber ich komme überall ohne Absteigen oder Schieben hoch. Irgendwann wird die Landschaft wieder etwas weiter und die Felder größer. Mais und Kartoffeln haben gerade erst mit einem kleinen zarten Grün die Erdkruste durchbrochen. Ich muss an zuhause und meine Aussaat denken. Mein Mais wird sicher bereits größer sein, die Kartoffeln aber vermutlich noch gar nicht zu sehen.

 

Beim Durchfahren der kleinen Ortschaften habe ich den Eindruck, dass alle irgendwie gleich ausschauen. Die Gemäuer schon recht alt, der Verputz zumeist heruntergefallen, die Fensterläden schon lange zu, die Hecken nie geschnitten, bei Anbauten das Dach oft verfallen. Der einzige Schmuck könnten die am Straßenrand vor den Eingängen geparkten Autos sein. Mittags habe ich dann endlich einen idyllischen Platz für eine Rast und das Erleichtern meiner Packtaschen gefunden. In einem netten Park mit großem Teich gibt es aus der linken Tasche Taboulé a Oriental und Quinoasalat mit Gemüse. Es schmeckt. Und als die Frösche kurz ihr Quaken unterbrechen, nicke ich im Schatten eines Baumes gar schnell ein. Radfahren macht nicht nur hungrig, sondern hie und da auch müde.

 

11. Mai 2025

Entspannt am Land und stressig in der Stadt

Bei munterem Vogelgezwitscher fahre ich frühmorgens einem breiten Kanal entlang. Das Wasser scheint zu stehen. Es ist voller Blütenstaub, und auch etwas Gras. Es schaut einem gemustert cremeweißen Teppich mit ein paar Einfärbungen ähnlich. Die Böschungen wurden gerade erst gemäht. Etwas Gras gibt es also auch am Radweg, zumindest dort wo schon gemäht. Und woanders steht es richtig hoch, hängt seitlich in die beiden schmalen Fahrspuren. Ich pflüge mit meinen breit ausladenden Taschen durch. Die Fahrspur nah zum Wasser versuche ich zu meiden. Ein unkontrollierter Schlenker und es macht Platsch. So wie hie und da bei einem aufspringenden Fisch. Doch es sind nur wenige Kilometer, auf denen es nicht so gut zum Fahren ging und der Weg etwas holprig war.

 

Bei den Schleusen zeigt die Ampel für die Schifffahrt immer rot. Doch für die Radler gibt es keine. Ich habe freie Fahrt. Nur viel ist auch auf dem Radweg nicht los. Aufpassen muss ich nur bei den Fischern. Da hat jeder gleich mehrere Ruten ausgelegt, die zum Teil in den Radweg ragen. Und aufpassen hätte ich auch auf Glassplitter sollen. Denn bei flotter Fahrt wurde ich jäh gestoppt. Der Hinterreifen war plötzlich platt. Als ich den Schlauch aus dem Reifen entfernte, kullerte ein kleiner Glassplitter nach unten, und im Schlauch war ein breiter Schnitt. Für das Weiterfahren war Reparieren angesagt.

 

In einer Kleinstadt sah ich schon von weitem das Schild einer Bäckerei. Kurz stoppte ich, und fuhr dann dennoch hungrig weiter. Es standen mir zu viele Leute Schlange. Die hatten gar weite Fußwege auf sich genommen. Denn danach kam ich immer wieder an Fußgängern vorbei, die in Papier eingewickelte Baguettes mit sich trugen.

 

Entlang des Kanals war es ein entspanntes Cruisen. Es hat mir gefallen. Auch die vielen und langen Waldpassagen danach hatten ihren Charme. Sie waren zwar holprig und manchmal auch steil, doch ich kam gut zurecht. Nahe zu Fontainebleau passierte ich das ehemalige Künstlerdorf Barbizon. Als „Village de Peintres“ lockte es am Muttertag natürlich viele Touristen an. Im Zentrum ging es hoch her. Und viel los war dann wenig später auch auf den Straßen. Ich kam Paris näher. Da war dann mit entspanntem Radeln Schluss. Ich musste mich im dichten Verkehr behaupten. Es gab wohl seitlich Radwege. Nur waren die wenig attraktiv zum Fahren. Sie kreuzten immer wieder die Straßenseiten und waren auch in schlechtem Zustand. Ich schaute, dass ich die Busspuren nutzend im Sonntagsverkehr mitschwimmen konnte. Einen Vorsprung erarbeitete ich mir immer bei den Ampeln. Da interpretierte ich die Rotphase etwas großzügig, oder hatte als Radler früher Grün als die Autos. Die Sehenswürdigkeiten müssen dann morgen schon sehr schön sein, ging es mir durch den Kopf. Weil das Radfahren in den Vororten von Paris empfand ich heute gar etwas stressig.

 

12. Mai 2025

Interpolieren im Stadtverkehr

In der Nacht gab es etwas Regen. Doch der Wind hatte am Morgen die Wolken schon wieder weitergetrieben und die Straßen abgetrocknet. Bei stark bewölktem Himmel starte ich meine Tour durch Paris. Ich gehe es gemächlich an. Denn Schülerlotsen bremsen mich ein. Davor schon hatten mich einige Lastenräder mit Kindern am Sozius überholt. Untrügliches Zeichen, dass ich in Schulnähe unterwegs war.

 

Der weitere Weg Richtung Zentrum will mir anfangs gar nicht gefallen. Die seitlichen schmalen Radstreifen finde ich ausgesprochen unangenehm zum Fahren. Denn immer wieder laufe ich auf langsamere Radler auf. Oder es klingeln und pfeifen welche hinter mir, die wohl zeitgerecht in ihr Büro kommen wollen und nur mit leichtem Rucksack schneller sind. Dazu gibt es viele Ampeln und Kreuzungen. Oder Busse und Lieferentenautos, die den Weg verstellen. Nach all den einsamen Tagen davor am Land muss ich mich erst an die Intensität des Stadtverkehrs gewöhnen. Irgendwann habe ich dann den Dreh raus. Ich nenne es Interpolieren im Stadtverkehr. Freies Wechseln zwischen Radspur und Autospur, je nachdem wo man besser durchkommt. Bei den Ampeln sich einfach möglichst weit vortasten und nach Lücken suchen. Immer in Bewegung bleiben und möglichst nie stehen bleiben. Schauen was andere Schnelle bei den Kreuzungen machen und mich ihren Routen anhängen. Gehsteige nutzen, wenn sonst alles verstopft ist. Ja, so komme ich zwischen Eiffelturm, Champs Elysees, Louvre, Notre Dame, sowie den Seinebrücken und dem Anstieg zu Montmartre gut voran, und finde nicht nur an den Sehenswürdigkeiten gefallen, sondern auch am städtischen Radfahren.

 

Auf dem Asphalt sind immer wieder Hinweise auf die Olympischen Sommerspiele letzten Jahres zu sehen. Rechteckige, leicht ausgebleichte rote Quadrate mit weißer Aufschrift „Paris 2024“ finden sich noch überall. Da wird in der Stadt wohl bedeutend mehr los gewesen sein als bei mir heute an diesem stark bewölkten Vormittag im Mai. Kurz hatte sich aber auch die Sonne gezeigt. Gerade passend zum Foto mit Rad vor dem Eiffelturm. Dieser hat bei mir am meisten Eindruck hinterlassen, nebst dem Interpolieren im Stadtverkehr.

 

13. Mai 2025

Ein Brot das schmeckt und ein ohrenwackelnder Fisch

Am Morgen bin ich wohl gut eine Stunde noch auf einer stärker befahrenen Straße unterwegs. Doch dann biege ich ab aufs Land, wo es mir weit besser gefällt. Ohne Verkehr ist es am Rad immer ein Hit. Ich komme an mehreren großen Kartoffelfeldern vorbei. Nah zur Straße verlaufen einige Reihen immer parallel zu ihr. Die Erde dampft. Ich sehe den Dunst aus ihr aufsteigen. Vom Kartoffelkraut schaut schon das erste Grün hervor. Die Reihen sind hoch aufgehäufelt, symmetrisch genau angelegt, und glatt gestrichen. Ein kohlschwarzer Rabe schreitet stolzierend eine der Reihen entlang. Es schaut aus, als ob er auf Inspektion unterwegs ist. Schauen ob alles in Ordnung ist, die Kartoffeln schon rauskommen, die Erde noch immer schön angeordnet wie vom Bauer gemacht, jede Krume am rechten Ort.

 

Am Vormittag kehre ich bei einer Bäckerei zu. „Le Pain comme je l’aime“ steht groß auf dem Schaufenster. Das lockt mich rein. Verschiedene Sorten Baguettes stehen in Reih und Glied im Regal. In einer Vitrine entdecke ich auch Sandwiches. Die machen mich ebenso an. Ich frage nach einem Vegetarischen. Die Verkäuferin überlegt kurz, und gibt mir dann eines von links außen. Doch denen hatte ich vorhin schon nicht ganz getraut, weil Ocean draufsteht. Also frage ich nochmals nach, ob es vegetarisch sei. Ja, bestätigt die Verkäuferin, und hilft sich, die sprachliche Barriere überwindend, mit Mimik und Gestik weiter. Es sei ein „Sandwich avec Saumon“. Sie öffnet dabei immer kurz den Mund ganz weit, und wackelt mit beiden Händen hinter den Ohren. Ich muss schmunzeln, und nehme dann zu ihrem Erstaunen nicht das Sandwich mit Lachs, sondern eines mit Ziegenkäse in Selbstbedienung. Weil noch weitere Personen hinter mir anstanden, verzichtete ich auf die pantomimische Übersetzung. Die Verkäuferin freute sich dennoch, wohl weil ich auch noch eines der Baguettes orderte. Das schmeckte in der Sonne vor dem Laden dann wirklich so wie am Schaufenster beschrieben.

 

Meine Route führt mich dann den Rest des Tages entlang von Getreidefeldern. Das verschiedene Grün hat mir gefallen. Manchmal war noch etwas Gelb vom Raps zu sehen. Oder auch nur Erde pur, dort wo Kartoffeln wachsen sollten. Weitestgehend flach dahingleitend sammle ich dennoch etwas Höhenmeter. Topfeben war die Gegend nämlich nicht. Auf den sanften Höhenlinien waren immer wieder Windräder zu sehen. Sie standen etwas verloren und ziemlich unterbeschäftigt da. Doch mir war die Windstille recht. So kam ich gut voran. Noch vor dem abendlichen Schütter hatte ich meine Unterkunft in einer der wenigen kleinen Ortschaften erreicht. Von den fünf Häusern war ich auf Nummer 3 auf einem Bauernhof. Von der Straße aus nicht zu sehen hatte ich ein alleinstehendes Atelier im Garten. Ein herrliches Ambiente bei nach dem Regen wieder rasch aufklarenden blauen Himmel.

 

14. Mai 2025

Mit Gegenwind über weite Felder

Leichter Morgennebel liegt träge auf den Wiesen. Die Siloballen scheint es nicht zu stören. Nur ich finde es etwas frisch zum Fahren. Reste des gestrigen Regens glitzern als Wassertropfen in den Getreidefeldern. Das finde ich wiederum sehr schön. Die Ähren tragen die Last mit gesenkten Köpfen. Oder kommt es mir so vor. Mit dem Dunst herrscht eine ganz eigenartige Stimmung. Am Horizont zeichnen sich schemenhaft die vielen Windräder ab. Einige drehen langsam ihre Propeller, so als ob sie den Nebel durchschneiden möchten. Es ist eine kleine Nebenstraße, auf der ich gemächlich dahingleitend die ersten Kilometer des Tages sammle. Kein Verkehr. Auf den Äckern sehe ich viele Krähen. Ein Hase nimmt Reißaus, als ich für ein Foto stehenbleibe. Irgendwann ziehe ich sogar noch ein Halstuch über. Die Sonne will noch nicht recht durchkommen, und ich brauche noch ein paar Kilometer mehr, um auf Betriebstemperatur zu kommen.

 

Mit Fortdauer des Tages werden auch die Felder größer, die Landschaft weiter. Es ist Agrarland hier. Das war es zwar die letzten Tage auch schon auf meiner Route. Doch jetzt sind die Bauernhöfe an meiner Route nicht mehr nur groß, sondern richtig groß. Und die Traktoren richtige Ungetüme, wenn sie mir auf den schmalen Wegen entgegenkommen. Da habe ich Respekt neben ihren großen und breiten Rädern. Ein Mal muss ich mein Rad neben so einem Koloss mit Jaucheanhänger vorbeischieben. Er ist am Weg stehen geblieben und wartet, bis ein Spezialtraktor am Feld seine Ladung übernimmt. Die Erde umbrechen und Düngen geht hier in einem Arbeitsgang. Ich muss staunen, nicht nur ob der Maschine, sondern auch ob der Größe des Feldes, die auf diese Art bearbeitet wird.

 

Am Nachmittag staune ich dann, wie zäh das Radfahren werden kann, wenn Gegenwind herrscht. Machte ich mich gestern noch über die stillstehenden Windräder lustig, so ist es heute wohl umgekehrt. Während die Windräder sich eifrig drehen, stehe ich fast still. Oder tue ich mir schwer, flott voranzukommen. Über das weite offene Land hat der Wind freie Fahrt. Ich habe sie nur, wenn meine Route irgendwo in einem Talboden oder einer Senke etwas versteckt im Wald dahinführt. Zum Glück war das dann doch immer wieder der Fall. Manchmal sogar richtig schön entlang von kleinen Gewässern.

 

15. Mai 2025

Grau in grau und irgendwann kalkweiß

Der Wetterbericht hatte es nicht anders vorhergesagt. Stark bewölkt begann der Tag, und blieb dann auch so. Für mich zeigte er sich Grau in grau. Vielleicht hatte ich mich dadurch auch gleich am Morgen schon verfahren. Erst als die Steigung nicht mehr aufhören wollte, warf ich einen Blick auf die Karte. Sofort war Umkehren angesagt. Und das ging dann flott, weil zurück lange abwärts. Irgendwann am Vormittag zog ich meine warme Weste über. Es war frisch. Der Wind ließ es einem noch kälter vorkommen. Frankreich zeigte mir heute also die kalte Schulter.

 

Waren gestern auf den Feldern einige Traktoren zu sehen, so wagte sich heute nur einer raus. Er war mit dem Umbrechen der Erde beschäftigt. Der Wind blies ihm eine Staubfahne hinterher. Weil schon nah zum Meer waren auch Möwen mit auf dem Feld. Nach Fisch suchten sie dort wohl eher nicht. Dennoch pickten sie eifrig in der vom Traktor gerade aufgeworfenen Erde. Kurz vor Calais kam mir eine weit auseinandergezogene Rennradlergruppe entgegen. Ihrem Outfit und der Sprache nach aus England. Es kam dann auch tatsächlich ein Begleitfahrzeug mit englischer Nummer hinterher. Sie schienen mir mit ihren kurzen Hosen vielleicht das Hervorkommen der Sonne erzwingen zu wollen. Oder sie wollten mir zeigen, dass man auf der anderen Seite des Kanals auch beim Radfahren der Kälte mehr trotzt.

 

Am frühen Nachmittag schob ich in Calais mein Rad dann auf die Fähre nach Dover. War Frankreich heute zum Abschied Grau in grau, so zeigte sich England mit dem ersten Eindruck aus Dover kalkweiß. Oder cremefarben weiß. Es waren die steilen Kalkfelsen, die beim Hafen mit ihrer Klippenform und ihrer Farbe einen nachhaltig markanten Eindruck hinterließen. Und gleich danach beeindruckte mich dann das scheinbar extra für Radfahrer gestaltete Labyrinth der Hafenausfahrt. „Follow the red line“ hieß die Botschaft des Fährenmitarbeiters für mich. Und weil diese rote Linie im Zickzackkurs auch immer wieder die Bahn der Autos querte, konnte ich mich gleich im Einüben der Blickrichtung beim Queren üben. „Look right“ und „Look left“ war da wohl an die 30-mal in kalkweiß oder cremefarben weiß auf die Fahrbahn gepinselt.